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Comic-Besprechung - Aufzeichnungen aus Jerusalem

Geschichten:
Chroniques de Jérusalem
Autor/Zeichner:
Guy Delisle
Farben: Lucie Firoud, Guy Delisle


Story:
Für Guy Delisle geht es im Schlepptau seiner Frau mal wieder auf die Reise. Diesmal ist Jerusalem das Ziel. Nach Birma und Pjöngjang nicht allzu exotisch sollte man meinen. Falsch gedacht. Die Stadt vereint derart viele Gegensätze, Kulturen und Religionen, dass man es kaum in Worte, geschweige denn in Bilder fassen könnte. Delisle versucht es trotzdem und es gelingt ihm auf seine unnachahmliche Weise. Mit ihm erkundet man nicht nur die uralte Stadt, sondern erlebt auch den Gaza-Konflikt und die Palästinenser-Problematik hautnah mit. Jeder Tag scheint etwas Neues zu bringen und selbst nach fast einem Jahr hat Delisle gerade mal an der Oberfläche eines möglichen Verstehens gekratzt. Soviel schon einmal vorweg: Ein einmaliges Porträt einer Stadt, eine ganz besondere Sichtweise, ein einzigartige Graphic Novel.


Dieser Comic wurde mit dem Splash-Hit ausgezeichnet Meinung:
Die Israeldebatte ist in vollem Gange ... nur ist es vermutlich leider die falsche. Weder ist es die Iran-Frage, noch zuletzt das Problem eines Grass’schen Gedichts, welche das israelische Gemüt umtreiben und für die Welt Anlass zur Sorge sein sollten. Selbst wenn Aufzeichnungen aus Jerusalem zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung nicht an der aktuellen Diskussion teilnehmen konnte, so bietet sich die Veröffentlichung durch Reprodukt  im März diesen Jahres hierfür im Grunde vortrefflich an. Wer einen Blick riskiert und die Erlebnisse von Guy Delisle während seiner Zeit in Israel (zu 98% natürlich in Jerusalem) nachvollzieht, wird einen Eindruck davon bekommen, mit welchen Problemen der israelische Staat tatsächlich zu kämpfen hat.

Der Kanadier Guy Delisle, bereits bekannt für seine Dokumentationen über Pjöngjang, China und Birma, hat sich mehr oder minder freiwillig ein neues Reiseziel ausgesucht. Soweit die autobiographischen Fakten stimmen, war die Tätigkeit seiner Frau für die Medecins Sans Frontieres (Ärzte ohne Grenzen) erneut Grund für den mehrmonatigen Aufenthalt, diesmal in der Stadt Jerusalem. Den Delisle auch weidlich nutzte, um nicht nur die Sehenswürdigkeiten der Stadt mit seinem Strich zu erfassen, sondern auch einen Eindruck davon zu vermitteln, wie diese so umkämpfte und religionsgeschichtlich wichtige Stadt im Inneren tickt.

Wer jetzt bei Aufzeichnungen aus Jerusalem an eine kritische Reportage denkt, ist schief gewickelt. Zwar hat Guy Delisle seine sehr westlich geprägte Perspektive, ihm gelingt es in seiner Graphic Novel allerdings sehr gut eine reine Beobachterrolle einzunehmen, die eher nebenbei mit den unterschiedlichsten Meinungen, Schwierigkeiten und Personen in Berührung kommt. Vornehmlich muss Delisle nämlich erst einmal den Alltag meistern, was schon eine Sache für sich ist. Manche Menschen können dabei jahrelang in einer Stadt leben und kommen über ihre gewohnten Viertel kaum hinaus. Delisle hat genug Neugier und eine gute Portion Abenteuerlust, um Jerusalem auch in den kleinsten Winkeln zu erkunden. Dabei stolpert er natürlicherweise schon über so manche Befindlichkeiten und Situationen, die man sich in ihrer dortigen Selbstverständlichkeit so gar nicht hier vorstellen könnte. Geschweige denn, dass so manches schlicht geduldet und hingenommen wird.

Womit man schon bei einem der durchscheinenden Probleme wäre. Aufzeichnungen aus Jerusalem verdeutlicht einmal mehr, dass Palästinenser im israelischen Staat Menschen zweiter Klasse sind. Wie es der Chefredakteur des Magazins The New Yorker kürzlich in einem Artikel bei Die Zeit kommentierte (hier im Original), gefährdet Israel seine Demokratie durch die Politik der Besatzung und Besiedlung. Wie er es beschreibt hat sich durch die Siedlungen eine Art Ethnokratie gebildet, die einer demokratiefeindlichen, teils sogar rassistischen Politik den Weg bereite. Man wird dem schwer widersprechen können, wenn man in der Altstadt seltsamer Netze über der Straße gewahr wird, die die Siedler davon abhalten sollen auf Passanten, insbesondere Palästinenser, Steine und Unrat zu werfen. Oder das Fernsehpublikum live Zeuge wird, wie bei einem israelischen Luftangriff auf Gaza ein Arzt drei seiner Töchter verliert. Oder die israelische Armee jede Nacht in die von den Palästinensern kontrollierten Zonen des Westjordanlandes eindringen, um Häuser zu durchsuchen, Leute zu verhaften und zu verhören. Oder Menschen (natürlich Palästinenser) aus einem Viertel in Ost-Jerusalem zwangsgeräumt werden, obwohl sie über gültige Besitzdokumente verfügen und dort seit 1956 wohnen. Nur um Siedlern Platz zu machen.

Kein Wunder, dass sich auch israelische Journalisten um Israel sorgen und darauf verweisen, der Staat habe für seine Bürger (Israelis UND Palästinenser) ein zweigeteiltes Recht. Eine Zerreißprobe, der der israelische Staat immer weniger gewachsen ist. Inzwischen fühlen sich die Ultraorthodoxen zu einem weitaus aggressiveren Vorgehen ermutigt, verlangen eine Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln und ein Verbot gegenüber Frauen für politische Ämter zu kandidieren. Vermutlich kommt es da Ministerpräsident Netanjahu nicht ungelegen, wenn über einen Angriff auf den Iran spekuliert wird oder ein schlichtes Gedicht die Welt von den innerstaatlichen Problemen Israels ablenkt.

Bei allem darf man nicht übersehen, dass Aufzeichnungen aus Jerusalem kein kritisches Lehrstück ist, sondern auch einfach den verrückten Alltag in einer Stadt widerspiegelt in der nicht nur die Religionen aufeinanderprallen, sondern auch so manche Kuriosität um die Ecke lauert. Naturgemäß ergeben sich so auch viele leichtere Momente, teils an Stellen, an denen man es gar nicht mehr erwartet. Wer den Kinofilm Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen kennt, wo laut Beschreibung das absurde Treiben in der Grabeskirche in Jerusalem dokumentiert wird und sechs christliche Glaubensgemeinschaften um ihren Anteil kämpfen, dies auf eine ganze Stadt ausweitet und noch mehr Religionen mit in den Pott wirft, der kann erahnen, was da auf den Leser an Kuriosa zukommt. Natürlich bekommt auch die Problematik der Grabeskirche ihren Platz in Guy Delisles Aufzeichnungen. Man weiß nicht, ob man manchmal lachen oder weinen sollte. Oder beides.

Ernstes und komisches reichen sich also die Hand, eben das Panoptikum einer Stadt wie Jerusalem, die in ihrer Mischung wohl einzigartig ist. Wer die Metropole mitsamt ihren Eigenarten kennenlernen will, der sollte statt eines üblichen Reiseführers lieber Aufzeichnungen aus Jerusalem zur Hand nehmen. Wahrscheinlich wird er am Ende sogar klüger aus der Sache hervorgehen. Nicht umsonst hat die Graphic Novel in Angoulême den Preis für das beste Album 2012 bekommen und wurde in Frankreich auch gleich ein Bestseller. Vollkommen verdient und vollkommen zu Recht.

Darüber hinaus sollte man natürlich nicht das graphische Vergnügen unterschlagen, welches einen bei der Lektüre befällt. Dem täuschend simplen Stil Delisles gelingt es zauberhaft die Stadt Jerusalem in allen ihren Aspekten abzubilden. Auch wenn Delisle anscheinend einen (zeichnerischen) Narren an der Mauer gefressen hat, die das Westjordanland umgibt. Der teils verwendete Begriff der Sperranlagen ist dabei recht euphemistisch gefasst, denn diese „Sperranlage“ besteht aus Beton und ist mehrere Meter hoch. Für einen Zeichner scheint sie aber einen besonderen Reiz zu haben. Darüber hinaus vermag es Delisle wie kein zweiter die teils absurden, teils komischen Seiten des Treibens zu fixieren. Er ist ein Charakter, der diese Situationen wunderbar erfassen und auch so wiedergeben kann, dass man ihm vieles nachfühlen kann. Sollte man der Graphic Novel glauben, ist das Leben des Zeichners ohnehin von einer unterschwelligen Komik geprägt. Vielleicht das Los eines Cartoonisten.


Fazit:
Eine Graphic Novel wie sie aktueller nicht sein könnte. Graphischer Reiseführer, geschichtliche Aufarbeitung, politische Dokumentation, Bildband, Biographie alles vereint sich in Aufzeichnungen aus Jerusalem, welches verdientermaßen preisgekrönt ist. Wer Jerusalem verstehen will, kommt an Deslisles Graphic Novel nicht vorbei. Auch wenn es abgedroschen klingt: Aufzeichnungen aus Jerusalem sollte in keiner Ernst gemeinten Sammlung fehlen.


Aufzeichnungen aus Jerusalem - Klickt hier für die große Abbildung zur Rezension

Aufzeichnungen aus Jerusalem

Autor der Besprechung:
Alexander Smolan

Verlag:
Reprodukt

Preis:
€ 29,00

ISBN 13:
978-3-943143-04-1

336 Seiten

Bewertungen unserer Redaktion und unserer Leser

Positiv aufgefallen
  • Guy Delisle mal wieder auf Reisen
  • einzigartiges Panoptikum einer Stadt
  • von komisch bis bitterernst alles dabei
  • Delisles sympathischer Strich
Negativ aufgefallen
Die Bewertung unserer Leser für diesen Comic
Bewertung:
1
(1 Stimme)
Bewertung
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Rezension vom: 25.05.2012
Kategorie: Alben
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