1989 wurde ein Roman-Manuskript Jules Vernes gefunden, das
den Titel „Paris au XXe siècle“ (dt. „Paris im 20. Jahrhundert“) trug. Der 35jährige Verne hatte das Buch 1863
geschrieben, es auf Betreiben seines Verlegers Pierre-Jules Hetzel jedoch nicht
zur Veröffentlichung gebracht. Hetzel befürchtete, das
dystopisch-pessimistische Bild der geradezu mythischen französischen Metropole
könne den jungen Autor bei seinen Lesern in Verruf bringen und seiner gerade
anlaufenden Karriere schaden. Wer wollte denn auch von einem Paris hören, das
die Herzen seiner Bewohner mit Leere, Verzweiflung und der Sehnsucht nach einer
besseren Welt erfüllte?
Die französische Ausgabe des Romans erschien schließlich im
Jahr 1994, mit über hundert Jahren Verspätung. Illustriert wurde das Büchlein damals
von dem belgischen Architekten und Zeichner François Schuiten. Es ist derselbe
François Schuiten, der jetzt, zwanzig Jahre nach der Jules-Verne-Neuentdeckung,
mit seinem Szenaristenpartner Benoît Peeters einen Comic namens „Revoir Paris“
vorgelegt hat. Der erste Band dieses Comics ist jetzt unter dem etwas
verwässerten Titel „Nach Paris“ auf Deutsch bei Schreiber & Leser
veröffentlicht worden.
Karinh, die Hauptfigur in „Nach Paris“, hat Jules Vernes
Paris-Roman zwar nicht gelesen, wohl aber, wie man einem Panel entnehmen kann, Walter
Benjamins klassischen Essay „Paris. Capital du XIXe siècle“. Es ist eines der
wenigen Bücher, das die junge Frau vor der banausischen Vernichtung durch ihre
Zeitgenossen bewahren konnte.Denn
Karinh lebt im Jahr 2156 in einer extraterrestrischen Kolonie, die bloß „Die
Arche“ genannt wird und über die nichts weiter bekannt ist, als dass sie eine
Art Paradies ist, in dem niemand Bücher liest, jede Frau zwei Normkinder gebiert
und ansonsten das Leben für alle entsetzlich ungefährlich, gesund und
harmonisch ist. Kein Wunder also, dass Karinh, die schon seit ihrer Kindheit als
Außenseiterin gilt, aus diesem öden Utopia, aus dieser Welt des tyrannischen
Durchschnitts ausbrechen will. Die Vision, der sie dabei wie besessen folgt,
ist das Paris all der nostalgischen Bücher, die sie seit ihrer Kindheit unaufhörlich
verschlingt; es ist aber auch das Paris, wo ihre Mutter ihren Vater kennen
gelernt hat: ein Stück Heimat also. Eine halluzinogene Droge, die Karinh regelmäßig
einnimmt, gibt ihr die (trügerische) Möglichkeit, in die fiktiven und zuweilen
phantastischen Bilderwelten dieser Bücher einzutauchen und die Imaginationsräume
ihres Heimwehs nach einer guten, alten Welt zu erkunden, die im Grunde genommen
nie anderswo als auf dem Papier existiert hat.
Damit ist die Tragik des Geschehens schon vorweggenommen.
Sie entsteht aus der Spannung zwischen der mythenschaffenden Phantasie der
Paris-Verehrer des 19. und 20. Jahrhunderts, die Karinh für sich zu einem
Sehnsuchtsort macht, und dem realen Paris des Jahres 2156. Denn Karinh begibt sich, als die Handlung des Comics einsetzt, in einem abgetakelten Raumschiff und als Haupt einer abgetakelten Crew,
die aus lauter steinalten Menschen im Dauerschlaf besteht, geradewegs zur Erde,
um „ihr“ Paris wiederzusehen, das Paris ihrer Bücher, ihrer Träume, ihrer
Drogengesichte. Dass sie nicht zurückkehren wird, dass man sie, die Querulantin
mit den terrestrischen Wurzeln und der unbotmäßigen Phantasie, ein für allemal
loswerden will, weiß Karinh nur allzu genau. Ihr alter Arzt Mikhail, der sich
auch an Bord befindet und einst für sie eine Art Vaterersatz gewesen ist, kann
sie auch nicht von ihrer verrückten Sehnsucht nach dieser einen Stadt
abbringen. Als die merkwürdige Seniorencrew mit ihrer hübschen, aber etwas
derangierten Anführerin schließlich auf der Erde landet, setzt Karinh alles
daran, sofort nach Paris weiter zu reisen. Coy, ein kleiner Waisenjunge mit
Boot und undurchsichtigen Absichten, hilft ihr dabei, indem er sie über die
Seine mit sich nimmt, dorthin, wo die beiden schließlich das Paris des 22.
Jahrhunderts finden werden, eine futuristische Stadt, die geradewegs von Jules
Verne erdacht hätte sein können. Als Karinh gerade im „Paris Express“ hockt,
einer schwebenden, gläsernen Halbkugel, die über dieses neue alte Paris hinweg gleitet,
geschieht etwas, das – man ahnt es – alles verändern wird und die Geschichte in
eine andere Bahn lenken wird. Einen besseren (und gemeineren) Cliffhanger für
den zweiten Band kann man sich gar nicht vorstellen.
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