Polza Mancini, der Mann, dessen Geschichte Manu Larcenet in „Blast“
erzählt, ist ein Mensch, um den wir alle einen weit Bogen machen würden. Er ist
fett, er ist unsympathisch, er ist
unberechenbar, womöglich sogar ein Psychopath, denn immer wieder hat er
Visionen, in denen die gewaltigen Steinskulpturen der Osterinseln, die Moai,
eine Rolle spielen. Außerdem steht er unter dringendem Mordverdacht gleich in
mehreren Fällen. Die Polizisten, die ihn verhören, trauen ihm nicht über den
Weg. Aus ihrem Abscheu gegen ihn machen sie, auch im Gespräch mit ihm, keinen
Hehl. Dass er schuldig ist und schuldig sein muss, steht für sie fest; nur wie schuldig er eigentlich ist, das wissen
sie noch nicht. „Ihr habt ihn geschnappt, jetzt wollen wir ihn auch begreifen“,
sagt einer der Polizisten zu Beginn des ersten Bandes. Und begreifen können sie
den in allen Belangen verdächtigen Fettsack nur, indem sie ihm Gelegenheit
geben, seine Sicht der Dinge zu erklären. Und das tut Mancini mit großer
Virtuosität. Vier dicke Comicbände lang.
Es gehört zu den famosen Kunstgriffen des
Geschichtenerzählers Manu Larcenet, dass er uns Polza Mancini durch dessen
eigene autobiographische Erzählung ganz nahe bringt, ohne doch jemals den
Verdacht auszuräumen, dass die ganze Geschichte, dass also Manzinis gesamtes
Selbstbild nichts als eine einzige fantastische Lüge sei. Ist denn die Souveränität, mit der Mancini
seine Vergangenheit erzählend organisiert, Zeichen einer besonderen introspektiven
Genialität, wie sie nur der Außenseiter, der von der Gesellschaft Verstoßene, der
Stigmatisierte entwickelt? Oder ist sie einfach nur das Ergebnis eines betrügenden,
verstellenden, verfälschenden Intellekts, der alle, die sich verständnisvoll auf
ihn einlassen, an der Nase herumführt? Man zögert bis zum Schluss der
Tetralogie, diese Frage eindeutig zu beantworten. Und das, obwohl Larcenet am
Ende des vierten Bandes eine quasi objektive, vermeintlich wahrheitsgetreue
Auflösung der Geschichte nachreicht, eine Auflösung, die jeden Kriminologen
vordergründig befriedigen dürfte, indem sie nämlich alle Leerstellen der
Erzählung Polzas beseitigt – oder bloß zu beseitigen scheint? Wie dem auch sei:
Da rekapitulieren die beiden Kriminalbeamten, die Polza einst ausführlich verhört
haben, den gesamten Fall in einem Fernsehinterview, und spätestens jetzt, denkt
man, werde endlich die Wahrheit ans Licht kommen. Spätestens jetzt werde der
rationale Verstand den Sieg davontragen über das irrationale Lügengespinst, das
der Verbrecher ausgelegt hat, um seine Schuld zu verbergen. Haben Lügen zuletzt
nicht doch immer kurze Beine (und, wie in Polzas Fall, einen fetten Hintern)?
Aber warum nur, fragt man sich zugleich, ist diese Wahrheit so
völlig verschieden von der Wahrheit, für die Polza selbst eingetreten ist? Und
warum um alles in der Welt nötigt uns dieser Comic dazu, die Geschichte Polzas
über viele hundert Seiten hin empathisch zu verfolgen, wenn sie sich am Ende doch als falsch erweist?
Oder – ist sie vielleicht gar nicht falsch?
Im vierten Band von „Blast“, der den merkwürdigen Titel „Hoffentlich
irren sich die Buddhisten“ trägt, verstrickt man sich als Leser jedenfalls immer
tiefer in die Geschichte Polza Mancinis und in die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit.
Polza hat, nachdem ihn zwei Herumtreiber übel zugerichtet haben, Unterkunft
gefunden bei dem sedierten Triebtäter Roland und dessen spröder Tochter Carole.
Mit Roland verbindet ihn eine Art Männerfreundschaft, die ein gegenseitiges
Belauern nicht ausschließt, mit Carole geht er ins Bett. Was dann geschieht, was
sich als gewaltiger Konflikt zwischen diesen drei Figuren anbahnt und am Ende auf
entsetzliche Weise entlädt, kann nicht nacherzählt werden, ohne zu viel von der
Geschichte preis zu geben. Nur so viel sei gesagt, dass dieses Finale von „Blast“
ein verstörendes Meisterwerk ist. Wie hier im Medium Comic erzählt wird, wie
Larcenet mit den Erwartungen des Lesers spielt, wie er die verschiedenen Ebenen
seiner Erzählung miteinander verschränkt und aus dieser Verschränkung zuletzt eine
ungeheure Spannung erzeugt, das muss man gelesen, muss man gesehen haben. Auch
zeichnerisch hat sich Larcenet mit „Blast“ selbst übertroffen. Nichts mehr ist
hier zu sehen von dem aufgeräumten Funny-Stil, in dem noch sein anderes
Meisterwerk „Der alltägliche Kampf“ gehalten war. Die Zeichnungen in „Blast“
sind in ihren reduzierten Schwarzweißtönen vielmehr auf radikale Weise expressionistisch,
ohne jeden Willen zur Gefälligkeit, dafür umso verstörender in ihrer grotesken Verzerrung
der Proportionen der uns vertrauten Wirklichkeit und aller uns vertrauten
Sinnzusammenhänge. Da hat sich ein Autor ein Bild gemacht von den schwärzesten
Abgründen der menschlichen Seele, und wir Leser schauen ihm, insgeheim die Lust an diesem Blick auskostend, dabei zu.
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