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Die große Lüge
Marvel hat Millionen von Fans gefoppt. Denn Sentry wurde als längst vergessener Superheld angekündigt, der angeblich noch vor den Fantastischen Vier der Phantasie Stan Lees entsprungen ist. Der Comic wurde prompt zum Kassenschlager. Doch die Wahrheit ist eine ganz andere. Denn nicht Stan Lee hat diesen Comic erfunden, er stammt vielmehr von Paul Jenkins und Jae Lee. Auf geschickte Art und Weise hat Joe Quesada es fertig gebracht, alle zu foppen und so einen Comic zu puschen, der sonst vielleicht kaum einer beachtet hätte.

Um die Geschichte ganz erzählen zu können, gehen wir etwa ein Jahr in die Vergangenheit zurück. Joe Quesada - gerade zum Chefredakteur von Marvel ernannt - hat eine schlaflose Nacht verbracht. Am Tag zuvor hatten ihm Paul Jenkins und Jae Lee die Idee für einen neuen Superhelden vorgelegt. Und diese Idee spukte ihm so lange im Kopf herum, bis er am frühen Morgen endlich eine Idee hatte, wie man diesen Comic richtig promoten könnte. Das Konzept - ein Superheld, der abhängig von seinen Superkräften ist und längst vergessen wurde - war in seinen Augen genial. Und er wollte, daß es die Aufmerksamkeit erhielt, die es verdiente. Doch die Idee aus seinen Träumen wollte einfach nicht mehr richtig in den Vordergrund kommen. Er konnte sich nicht erinnern. Und dann fragte er sich: "Vielleicht soll ich mich ja nicht daran erinnern." Das Konzept war geboren.

Nur wenige wurden eingeweiht. Der Plan sah vor, Paul Jenkins, Jae Lee, den Wizard (DAS amerikanische Comic-Magazin) und sogar den Marvel-Mitbegründer Stan Lee mit einzubeziehen. Zusammen wollten sie eine vierzigjährige Geschichte und einen unbekannten Künstler erschaffen, um den Sentry in einen Silver Age-Helden zu verwandeln. Und das alles für eine Figur, die vor dem Jahr 2000 nicht das Licht der Welt erblickt hatte. Und so sollte das Ganze aussehen:

Vor der Erstveröffentlichung der Fantastischen Vier im Jahre 1961 sollte Stan Lee in Zusammenarbeit mit dem Künstler Artie Rosen den Helden The Sentry erschaffen haben. Der Held mit unglaublichen Kräften sollte seine eigene Serie bekommen - doch niemand konnte sich daran erinnern, weder Comichistoriker noch Marvelangestellte, selbst Stan Lee hatte die Figur vergessen. Rosen war im Frühjahr 2001 gestorben, seine Frau hatte seine Hinterlassenschaften durchgesehen und war dabei auf eine Box mit der Aufschrift "Eigentum von Marvel Comics" gestoßen. Diese brachte sie dann auch pflichtbewußt nach New York zum Firmensitz, wo sie zwar auf Quesadas Schreibtisch landete, aber unbeachtet blieb. Bis sie von Paul Jenkins entdeckt wurde und der darin die Skizzen und Comics fand, die ihn zusammen mit Jae Lee zu einer neuen Miniserie inspirieren sollten.

So viel zur frei erfundenen Geschichte. Doch in Wirklichkeit ist die Geschichte von Sentry nicht vierzig, sondern nur etwa zehn Jahre alt. So lange spukte die Idee nämlich in Jenkins Kopf herum. "Ich wollte schon immer einen Superhelden schreiben, der durch seinen Kräften süchtig wurde." Als er noch bei Vertigo arbeitete, wollte er Hourman mit eben jenem Konzept neu entstehen lassen. Aber das sollte nicht klappen. Also erschuf er The Sentry, einen Helden, dem immer wieder Erinnerungen an ein Superheldenleben im Gehirn herumgeistern, der sich aber nicht dran erinnern kann, ein Held gewesen zu sein. Bei DC signalisierte man Interesse, aber es kam nichts dabei heraus. Auch bei Marvel, bei denen Jenkins einige Arbeit als selbständiger Autor abgab, stieß die Geschichte auf kein Interesse - zunächst. Doch Jenkins gab nicht auf. Er beriet sich mit Freund und Künstler Rick Veitch, der ihm dabei half, den Charakter des Sentry weiterzuentwickeln.

Die Zeit verging und mit den Inhumans gewann Paul Jenkins den Eisner-Award. Ein Meilenstein in seiner Karriere. Jae Lee - mit dem zusammen er den Comic geschaffen hatte - und er standen der Frage gegenüber, was sie nun machen wollten. Und Jenkins sah die Chance, seiner Idee neues Leben einzuhauchen. Er holte sich zunächst das Okay von Rick Veitch. Dann besprach er sich mit Jae Lee, der sich die Geschichte anhörte und zustimmte, zusammen mit Jenkins einen weiteren, letzten Versuch zu starten, den Sentry aufleben zu lassen. Und so setzten sie sich mit Joe Quesada zusammen. Der erinnert sich: "Es war ein brillantes Konzept. Ich liebte es." Er gab grünes Licht. Doch der Triumph von Jenkins hatte einen bitteren Nachgeschmack. Denn er konnte nicht seinen Namen als Erschaffer der Figur ins Spiel bringen - zumindest zunächst nicht.

Quesadas Marketingkonzept verwandelte Jenkins vom Erschaffer zu jemanden, der einfach nur eine alte Stan Lee-Figur gefunden hatte. Das paßte Jenkins zunächst gar nicht. "Es war einfach nicht mein Stil. Und zudem bin ich ein fürchterlicher Lügner." Aber schlußendlich konnte ihn Quesada überzeugen. "Die Bewerbung der Geschichte war eine Wiedergabe der Geschichte im Comic. Wie hatten wir bloß diesen tollen Helden vergessen können? Und das machte das Ganze um so wertvoller für mich." Klar, das Marvel-Universum mit all seinen Helden, die eben nicht ganz perfekt sind, konnte diesen mehr als perfekten Helden einfach nicht halten. Wer jetzt noch mitspielen mußte, das war Stan Lee.

Quesada gibt zu, daß er nicht wußte, wie Lee die Idee aufnehmen würde. "Aber als ich es ihm vorschlug, war er begeistert." Stan "The Man" dazu: "Ich habe sowieso ein sehr schlechtes Gedächtnis. Und jeder weiß ja, daß ich mich gerne für alles verantwortlich zeichne", schmunzelt der Marvel-Macher. Und dann war da noch Artie Rosen... Aber dieses Hindernis war schnell zu überwinden, denn der Zeichner existierte nie. Aber er wurde geschaffen - und auch sein Ableben wurde inszeniert. In Daredevil 9 wurde gar ein Aufruf in die Redaktionsseiten eingebaut, in dem die Marvelianer die Leute um Beileidsbekundigungen baten. Dann kam der Wizard ins Spiel. In Ausgabe 103 wurde eine Meldung über die Artie Rosens Tod verbreitet. In Ausgabe 104 wurde dann zum ersten Mal auf einen Helden hingewiesen, der offenbar im Silver Age verlorengegangen war. Die Reaktion der Fans war gigantisch. In Chatrooms, auf Websites und in Leserbriefen wurde auf diesen Helden angesprochen und darum gebeten, doch mehr von ihm zu zeigen. Dann in Ausgabe 105 wurden die ersten Sketches gezeigt, die angeblich von Artie Rosen stammten, aber in Wirklichkeit von John Romita Sr. gezeichnet worden sind. Das alles schlug ein wie eine Bombe!

Als dann im Sommer 2000 die erste Ausgabe herauskam, wurde der Comic ein unglaublicher Erfolg. Jedes Heft enthielt ein Interview zwischen Joe Quesada und Stan Lee - und die brachten dann den armen Quesada auch ein wenig ins Schwimmen. "Wenn du da sitzt und Stan zuhörst, der alles so echt klingen läßt, dann beginnst du dich schon zu fragen... Es war wirklich schwer, die Fiktion von der Realität zu trennen." Als dann die Geschichte beendet wurde und darin auch gesagt wurde, daß alle im Marvel-Universum den Helden vergessen hatten, fingen einige Fans an, den Braten zu riechen. Jetzt im Mai 2001 wurde die Wahrheit enthüllt. Doch Quesada ist sich sicher, daß die Fans nicht sauer sein werden. "Die Lüge war notwendig, um die Geschichte des Comics noch interessanter zu machen. Wir versuchten ganz einfach, die Welt des Sentry zu erschaffen - im Comic und ein bißchen auch außerhalb." Und Jenkins ist auch zufrieden - darf er doch endlich als Erschaffer der Figur auftreten. "Es hat alles funktioniert. Ich denke, die Leute werden den Comic lesen und sich sagen, daß wir da wirklich etwas extrem Cooles geschaffen haben." Quesada ist sich sicher, daß die Fans das Ganze nicht vergessen werden. "Es wird sicher auch noch welche geben, die glauben, daß das Ganze doch echt ist. Und wer weiß... vielleicht ist es das auch."

Bleibt noch die Frage nach der Zukunft des Sentry. Eine fortlaufende Serie wird es nicht geben. Aber wir werden ihn vielleicht wiedersehen. Joe Quesada dazu: "Wenn wir ein Konzept finden, das zum Sentry passen würde und Paul mit von der Partie ist, werden wir das auch tun." Hoffen wir, daß das bald sein wird.


Special vom: 14.05.2001
Autor dieses Specials: Bernd Glasstetter
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Die Geschichte des Sentry
Die Beteiligten
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