Optionen und weiterführende Links



In der Datenbank befinden sich derzeit 477 Specials. Alle Specials anzeigen...

Interview mit Volker Reiche
«  ZurückIndexWeiter  »

„Ich habe mich fast ein Jahr mit Nacht und Dunkelheit beschäftigt.“Volker_Reiche

Volker Reiche is back! Welcher deutsche Comicautor kann schon von sich sagen, dass er sowohl urdeutsche, als auch uramerikanische Funny-Unterhaltung gezeichnet hat? Volker Reiche, der Mann, der im Comic-Untergrund begann (Hinz & Kunz, Volksverlag) und später sowohl Donald Duck als auch Mecki zeichnete, setzte sich ein Denkmal, als er für die Frankfurter Allgemeine Zeitungeinen täglichen Zeitungsstrip ablieferte. Für den Comic Strizz, der stolze acht Jahre lang in der F.A.Z. erschien und anschließend in Buchform gesammelt wurde, erhielt Reiche gar zwei Mal den renommierten Max-und-Moritz-Preis.
Jetzt ist der facettenreiche Künstler zurück. In Suhrkamps Graphic Novel-Programm, das 2012 mit Comicadaptionen von hauseigenen Romanstoffen so richtig Fahrt aufgenommen hat, ist mit Reiches Kiesgrubennacht eine Graphic Novel erschienen, die keine Belletristik zur Vorlage hat. Hier adaptiert der Zeichner einen Teil seines wahren Lebens, insbesondere seine Kindheit im Nachkriegsdeutschland, und reflektiert unter anderem über die Rolle, die seine Eltern während der Zeit des Nationalsozialismus gespielt haben könnten. Kiesgrubennacht ist ein Paradebeispiel dafür, dass Comics als eigenständige Kunstform dazu in der Lage sind, sowohl zu unterhalten als auch dem kulturell interessierten Leser Denkanstöße mit auf den Weg zu geben. Genauso wie es gute Literatur vermag, die auf mehreren Ebenen lesbar und interpretierbar ist.
Ende Oktober 2013 unterhielt sich Matthias Hofmann für ZACK mit Volker Reiche, nachdem dessen Buch Kiesgrubennacht gerade auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt worden war.

Kiesgrubennacht ist mit über 200 Seiten Dein umfangreichstes zusammenhängendes Werk, wenn man Strips wie Mecki oder Strizz außer Acht lässt. Wie lange hast Du an der Graphic Novel gearbeitet?
Neun Monate lang, vom Spätsommer 2012 bis Mai 2013. Ziemlich zügig, würde ich sagen, aber zügiges Arbeiten bin ich spätestens seit den Strizz-Jahren gewohnt. Allerdings hatte ich mir schon in den 1980er Jahren Notizen für eine Autobiographie gemacht, damals noch mit dem Gedanken, einen literarischen Roman zu schreiben. Und ich habe schon vor Jahren zwei kurze autobiographische Comics gemacht.
Einmal im Fanzine ZEBRA, eine Erzählung aus meiner Kindheit, zum anderen in der F.A.Z. bei meiner Rezension in Comicform der Erinnerungen von Art Spiegelman. Beides taucht in Kiesgrubennacht wieder auf.

Willi_Wiederhopfs_Pokerrunde


Wie hast Du Dich gefühlt, als Du die letzte Seite „im Kasten“ hattest?
Sehr gut. Schöne Sache, so eine lange Strecke abzuschließen. Die Strizz-Bücher waren ja auch dick, aber doch lediglich Jahresbände der Strips eines Jahres. Eigentlich ist dieses Buch die erste Langstrecke eines One-Pager-Kurzstreckenläufers.

Hast Du vor Beginn des Zeichnens eine Art Inhaltsverzeichnis mit wichtigen Episoden aus Deinem Leben gemacht und dann selektiert? Welche Vorarbeiten gab es?
kiesgrubennachtNein, kein Inhaltsverzeichnis. Ich habe meine Notizen aus den 80ern durchgelesen, mir ein paar alte Familienfotos angesehen, dann habe ich das weggelegt und so gearbeitet wie immer. Ein paar Bleistift-Skizzen von meinen Geschwistern und mir als Kindern, ein paar Skizzen, wie meine Eltern im Buch aussehen könnten, das war es schon an zeichnerischen Vorbereitungen. Das Format 17 x 24 cm stand fest, daraus ergab sich, wie viel Platz ich auf jeder Seite hatte. Dann schnell festgelegt, dass eine Seite höchstens sechs Panel haben sollte, besser drei, zwei oder eines.
Auch dass ich den Bildern keinen Panelrand spendieren wollte, dafür aber dem erzählenden Text, habe ich sofort entschieden. Ich wollte für angenehme Lesbarkeit Luft und viel weiße Fläche auf jeder Seite haben. Dann sture Zeichenvorarbeiten. Auf 250 Kartons am Lichttisch die Passerkreuze für das Seitenlayout - Vergrößerungsfaktor 1,4 - eingezeichnet, dann auf allen Seiten mit Bleistift und Lineal das Seitenlayout zum direkten Zeichnen am Zeichentisch eingetragen.
Ich hasse diese blöde aber notwendige Arbeit, deshalb erledige ich sie immer am Anfang ganz, um dann nie mehr davon gestört zu werden.
Ich zeichne immer sofort auf den Reinzeichnungskarton, das heißt, dort wird auch die Geschichte entwickelt.
Schreiben und Zeichnen ist ein Vorgang bei mir. Nach etlichen tausend gezeichneten Seiten ist mein Vertrauen groß, ohne großes Hin und Her das erzählen zu können, was ich erzählen will. Große zeichnerische Experimente hatte ich nicht vor - die malerischen Gedichtillustrationen kamen erst später.

Der Klappentext sagt: „die große Comic-Autobiographie des Kult-Comiczeichners“ und „legt Volker Reiche auf noch nie im Comic gesehene Weise Rechenschaft über das, was ihn zum Künstler werden ließ, ab“. Der gesamte Komplex „Comiczeichner“ wird jedoch gar nicht behandelt, nicht einmal ansatzweise. Wie ist diese Diskrepanz zu verstehen?
Ja, seufz, die Klappentexte ... Klappern gehört zum Handwerk.
Das sind Verlagstexte, und ich werde dem Verlag bei seinen Werbesprüchen nicht in den Arm fallen. Wie sagt Dagobert Duck? „Handelsübliche Übertreibungen.“ Hm ... oder war es Donald?
Ansonsten irrst Du. Ich halte sowohl Kunstmaler wie Comicautoren für Künstler, ich bin beides geworden. Und schon im ersten Kapitel sieht man, wie ich mit vier Jahren Wilhelm Busch studiere, der Bildergeschichten ohne Kästchenränder erzählt. Der Busch-Einfluss auf mich als Comiczeichner wird sofort klar, allein wenn man sieht, dass auch ich auf Kästchen bei den Bildern verzichte. Dann meine Begegnung mit einer der ersten Donald Duck-Geschichten. wiedersehen_reiche
Ich lasse im Buch keinen Zweifel daran, dass mich diese Geschichte tief beeindruckte. Man kann es sich an zwei Fingern abzählen, das diese Begegnung ein wesentlicher Grund dafür ist, dass ich später Disney-Zeichner wurde. Wer meine Arbeiten als Comic-Künstler kennt, weiß, wie viel Wert ich auf das Erzählen meiner Geschichten lege. Was wäre ich ohne das Lesen der Duck-Geschichten in der großartigen Sprache von Frau Dr. Fuchs? Was wäre ich ohne das ununterbrochene Lesen von Büchern seit meinem sechsten Lebensjahr? Das wird überall im Buch gezeigt, und es erhellt, wie jemand zum Comicerzähler werden kann.
Auch von Zeichenübungen wird erzählt - wie zieht man einen geraden Strich auf der Schiefertafel, wie zeichnet man einen Baum, muss man Prinz Eisenherzabzeichnen? Und jeder kann lesen, wie ungeheuer wichtig das für mich war. Ich bin ganz und gar Autodidakt, von einer formalen Ausbildung zum Comiczeichner kann ich in meiner Autobiographie nicht erzählen. Und dass mir beispielsweise später der holländische Disney-Zeichner Daan Jippes gezeigt hat, wie man Donald richtig zeichnet, ist gegenüber den geschilderten frühen Prägungen vergleichsweise gänzlich unwichtig.
Mit anderen Worten: Wo der Klappentext recht hat, hat er recht!

Stimmt. Wenn ich die Lektüre noch einmal Revue passieren lasse, dann ist das, was Dich zum Künstler gemacht hat, subtil eingearbeitet. Das zentrale Thema ist nach meinem Empfinden die Rolle Deines Vaters im Nazi-Deutschland, die direkt und indirekt immer wieder anklingt. In den meisten Episoden kommt Dein Vater als eher unsympathischer und schlechter Mensch herüber, auch wenn du es nicht direkt so bezeichnest. Symptomatisch erscheint mir die Szene mit dem Meerschweinchen Peter, die einen harten und grausamen Menschen zeigt. Was hast Du als Kind von Deinem Vater gelernt bzw. nicht gelernt?
Im zweiten Kapitel, der langen Geschichte über meinen sechsten Geburtstag, wird gezeigt, wie faszinierend ein Vater sein kann, der selten zu Hause ist, dann aber mit einem tollen roten Cabrio angeknattert kommt und den gewöhnlichen Alltag, den die Mutter zu bieten hat, mit dem Hauch des Abenteuers übertrumpft. Dazu gehört auch seine Messerkraftmeierei. Ich zeige, wie leicht ich dadurch zu fangen war.
Die Schläge für die Mutter sind zunächst unbegreiflich, nur langsam lernen wir Kinder, dass dieser Vater gefährlich ist, eine Art Pulverfass, das man besser meidet. Mitleid, Empathie und Verzeihen habe ich nicht bei ihm gesehen und nicht von ihm gelernt. Doch er war der erwachsene Mann in der Familie, der Vater, in irgendeiner Form wird er für den Buben, der ich war, ein männliches Vorbild gewesen sein. Gewiss nicht in Jähzorn und „erzieherischer“ Grausamkeit, doch dass ein Mann, wenn er die Szene betritt, sie beherrschen will, könnte mir für meine Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener durchaus ein Vorbild gewesen sein.

reiche_tafeln


Wie würdest Du unter diesen schwierigen Umständen Euer Vater-Sohn-Verhältnis beschreiben? Im Comic triffst Du Deinen
Vater im Jahr 1973 wieder, um ihm die Frage nach einer Beteiligung an einer Massenhinrichtung im 2. Weltkrieg zu stellen. Wieso war es kein Thema, dass er sich so lange nicht gemeldet hat?

Als ich ungefähr zwischen neun und elf Jahre alt war, hat er sich von meiner Mutter scheiden lassen und zog aus. Er nahm noch einige Mal sein Besuchsrecht wahr, dann verschwand er ganz aus dem Leben von uns Kindern. Was uns nur recht war, denn wenn Kinder eines nicht leiden können, dann sind es unberechenbare gefährliche Erwachsene, gleich ob Vater oder nicht. Großes Aufatmen in der Familie, und meine Mutter hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er der große Bösewicht ist, der uns Kindern nicht gut tut. Er war weg, und seine Person verblasste im Laufe der Jahre.
Habe ich mich nach ihm gesehnt? Habe ich einen Vater vermisst?
Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Um diese Frage zu beleuchten, müsste ich einen zweiten Band über meine Jugend schreiben ...
Mir ist natürlich klar, dass das eine sehr oberflächliche Beschreibung des Vater-Sohn-Verhältnisses ist, doch eine psychoanalytisch zutreffende Einschätzung vermag ich nicht zu geben.

Der Comic besteht aus zwei Erzählebenen: zum einen die Rückblenden aus Deiner Kindheit, zum anderen eine Art Selbstreflektion in der Jetzt-Zeit, in der die Graphic Novel entsteht. Hier lässt Du fiktive Figuren aus Deinem langjährigen Comicstrip Strizz auftreten, wie z.B. den diktatorischen Kater Herr Paul oder die Hunde Müller und Tassilo. Was denkst Du, wie schätzt ein Leser diese Episoden ein, der Strizz nicht kennt? Oder setzt du diese Kenntnis voraus?
Eine der großartigen Möglichkeiten des Comics - und damit auch der Graphic Novel - ist es, problemlos sprechende Tiere oder sprechende Marsmännchen oder sprechende Möbelstücke auftreten zu lassen. Der Leser sieht das und muss und will es glauben. Funktioniert ohne Bilder - in der Literatur - vermutlich nicht annähernd so gut. Niemand muss Strizz gelesen haben, um zu erkennen, dass dieser schwarzweiße Kater ein Ekel ist. Das „Problem“ der Zwischenkapitel, die in der Entstehungszeit des Buches spielen, ist ein anderes: Viele Leser wollen vermutlich die mit Kinderaugen gesehene Welt des Dorfes und später der Kleinstadt ungern verlassen, wollen bei den Kindern in Lederhosen bleiben, diesen authentischen Klang weiter hören und nicht durch die Metaebene einer wie auch immer intellektuellen Kapitelkritik durch Zeichner und Tiere gestört werden. Tja, tut mir Leid, da müssen sie durch. Das ist kein Rundum-sorglos-Buch.

Weiter geht es in ZACK # 176 ...

«  ZurückIndexWeiter  »


Special vom: 26.01.2014
Autor dieses Specials: Matthias Hofmann
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F. W. Tempel
Interview mit Dana Simpson
Das Allerletzte
Zurück zur Hauptseite des Specials


?>