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Literaturcomics – Einstiegsdroge oder Eintagsfliege?

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Nicht selten fühlen sich Comickünstler von Literatur inspiriert. Es gibt zahlreiche Comics mit Verweisen zu Romanen. Entweder ein Comicautor übernimmt Romanfiguren für eine Comicgeschichte oder er erwähnt ein literarisches Werk, oder er venwendet Motive aus einem Roman. Einen Schritt weiter gehen die Comicautoren, die einen ganzen Roman als Comic verwirklichen. Immer mehr Verlage bringen Adaptionen von literarischen Vorlagen heraus. Sogar die UNESCO hat eine Reihe von Literaturcomics gefördert. Doch der Trend ist gar nicht so neu. Früher gab es bereits die Illustrierten Klassiker, und seither setzen Comicautoren immer wieder ihre literarischen Lieblingsgeschichten in Sprechblasen und Panels um. Die Frage ist: Sind diese Adaptionen nur Nacherzählungen oder können sie den Originalen noch etwas hinzufügen?

Illustrierte_KlassikerComicautoren bevorzugen vor allem populäre Genre-Literatur wie Sciencefiction, Fantasy oder Krimi. Seit den 1950er Jahren gibt es aber auch immer wieder Szenaristen, die klassische Literatur als Comics umsetzen. Die langlebige Heftserie Classic Comics/Classics Illustrated hat Abenteuer- und Weltliteratur als Comics adaptiert. Friedrich Rudl, Internationale Klassiker, Bildschriftenverlag, Bruguera und Norbert Hethke veröffentlichten die Illustrierten Klassiker wie Alexandre Dumas‘ Die drei Musketiere, Robert Louis Stevensons oder Die Schatzinsel. Abgesehen von dieser auf das Abenteuer ausgerichteten Serie dauerte es, bis andere Ansätze folgten. Neue Impulse kamen von italienischen Comicautoren, die das Genre mit ihren eigenen Stilmitteln prägten und damit den typischen Abenteuerstil hinter sich ließen.

Innovation in Italien
Sergio Toppi illustrierte bereits Ende der 1970er Jahre Literaturklassiker wie Jack Londons Ruf der Wildnis in seinem kunstvollen Stil. Hugo Pratt setzte 1980 in der Les Humanoides Associes-Reihe "collection noire" Werke von Robert Louis Stevenson anspruchsvoll als Comic um. Mit seinem typisch illustrativen Strich erzeugt Pratt eine düstere und bedrohliche Stimmung. Guido Crepax, bekannt für seine erotischen Arbeiten, hat gleich eine ganze Reihe von literarischen Klassikern in cineastische Bilder übertragen. In den 1980er Jahren adaptierte Crepax Geschichten von Edgar Allan Poe, Bram Stokers Dracula und Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll & Mr. Hyde. In den darauf folgenden Jahrzehnten legte der Mailänder Adaptionen von Henry James (Das Durchdrehen der Schraube), Franz Kafka (Der Prozess) und Mary Shelly (Frankenstein) nach. 2002 erschien eine weitere Adaption von Doktor Jekyll & Mister Hyde. Der italienische Avantgarde-Comickünstler Lorenzo Mattotti hat zusammen mit Jerry Kramsky eine sehr freie Umsetzung des viktorianischen Klassikers realisiert. Durch Mattottis malerischen Stil und dessen typische Bildsprache entstand eine einzigartige wie kunstvolle Interpretation von Stevensons Vorlage. Die Figuren scheinen aus einem Gemälde von Max Ernst oder Otto Dix zu stammen und erscheinen in form- und farbgewaltigen Bildern.
Der künstlerische Zugang zur Literatur setzt sich auch bei der jungen italienischen Generation fort. 2010 erschien im avant-verlag Manuele Fiors Version von Arthur Schnitzlers Fräulein Else. Fior übertrug die Novelle in eine expressionistische Ästhetik, in der sowohl die Farbe als auch die kreative Erzählweise im Vordergrund steht.

Der_SpielerImpulse aus den USA
Weitere neue Wege beschritten auch einige US-Comickünstler. Carlsen veröffentlichte zwischen 1994 und 1995 beispielsweise
Die Bradbury Chroniken. Bei dieser Trilogie handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt internationaler Comiczeichner, die Ray Bradburys Kurzgeschichten-Zyklus Die Mars Chroniken adaptiert haben. Die Beiträge von Mark Chiarello, Kent Williams und John van Fleet ragen nicht nur in graphischer Hinsicht heraus, sondern zeugen auch von der Stärke von Comicadaptionen: beschriebene Stimmungen oder dramatische Akzente aus der Vorlagen werden graphisch verstärkt.
In der Ehapa-Reihe Illustrierte Kinder-Klassiker erschien 1998 Will Eisners Adaption von Herman Melvilles Moby Dick. Auf der einen Seite ermöglicht Eisners Erzählform, dass ein umfangreiches Werk durch wenige Seiten nacherzählt und so einem jungen Publikum "schmackhaft" gemacht werden kann. Andererseits gehen durch Eisners Kürzungen zu viele Zusammenhänge verloren, wodurch ein inhaltlicher "Substanzverlust" nicht von der Hand gewiesen werden kann.
Von herausragender Qualität ist David Mazzucchellis Adaption von Paul Austers Roman Stadt aus Glas, die er mit Unterstützung von Paul Karasik realisierte. 2006 bei Reprodukt veröffentlicht, stehen in der schwarzweiß illustrierten Umsetzung die Sprachmittel des Comics im Vordergrund. Mazzucchelli wird Austers Großstadt-Krimi dadurch gerecht, dass er ihn in ähnlich postmoderner Weise adaptiert. Die rasterähnlich angebrachten Sequenzen und die teilweise abstrakten Motive illustrieren kongenial Austers Universum, das zwischen Sein und Schein schwankt.
Neben Comicverlagen entdeckten in den 2010er Jahren viele Literaturverlage die Graphic Novel für sich – und was lag da näher, als Literaturadaptionen zu veröffentlichen? Im Eichborn Verlag erschienen zuvor lediglich Cartoons, und so war die Comicszene 2010 nicht wenig überrascht, als Eichborn eine Comicversion von Ray Bradburys Fahrenheit 451 publizierte. Tim Hamilton hat die klassische Anti-Utopie im Stil des art déco und mit erzählerischen Kunstgriffen atmosphärisch dicht und innovativ als Comic realisiert.

Graphic Novels und Literaturjekyll_hide
Nachdem Literaturcomics lange Zeit ein Randphänomen blieben, blühte das Genre im "Fahrwasser" der Graphic Novel-Welle auf.
Ein Beispiel wäre Joann Sfars Comicversion von Der kleine Prinz, der 2009 bei Carlsen erschien. Der französische Shooting-Star hat den All-Ages-Klassiker von Antoine de Saint-Exupéry in seinem typisch leichtfüßigen und reduzierten Zeichenstil illustriert. Sfar erfindet das Rad nicht neu. Dennoch wird er dem Original gerecht, indem er die Fabulierfreude und Phantasiestärke der Vorlage in passender Weise graphisch übertragen kann.
Bei Carlsen erschien 2011 mit Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß ein weiterer Titel von Jirō Taniguchi, der den Bestseller-Roman von Hiromi Kawakamis adaptiert hat. Die poetische Kraft, die von den Bildern des anspruchsvollen Mangaka ausgeht, passt perfekt zu der behutsam und detailreich erzählten Geschichte von Kawakamis.
Ein Nicht-Comicverlag, der ab 2010 Graphic Novels ins Programm aufnahm, war Knesebeck. Das Unternehmen sollte sogar zu so etwas wie dem "Literaturcomicverlag“ werden. Denn kein anderer Verlag hat in den letzten Jahren derart viele Comicadaptionen von Literatur herausgebracht. Den Anfang machte Franz Kafkas Die Verwandlung.
Die groteske Erzählung wurde von  Corbeyran und Horne in stimmungsvollen, düsteren und stilistisch gelungenen Bildern adaptiert.
Dagegen muss Stéphane Heuets Umsetzung von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als misslungen betrachtet werden. Die biederen ligné claire-Zeichnungen werden von einem "großzügigen" Erzähltext überfrachtet und Prousts Vorlage im Grunde uninteressant nacherzählt.
Bei Knesebeck erschienen Comicvarianten von Dante Alighieris Göttlicher Komödie und Laurence Sternes Tristram Shandy, Gentleman. Nur der zuletzt genannte Titel konnte über die bloße Nacherzählung hinaus durch graphische und erzählerische Stilmittel neue Akzente setzen. Die ausschweifende Art und der eigenwillige Humor der Vorlage werden vom Illustrator Martin Rowson ebenbürtig in die Sprache des Comics übertragen. Knesebeck knüpfte auch 2012 an seine Vorjahre an, indem der Verlag Sylvain Ricards und Maël Franz‘ Version von Kafkas In der Strafkolonie veröffentlichte. Wenn auch stilsicher und gelungen in der Umsetzung, wirkt der Ansatz der beiden trotzdem zu "harmlos" – über eine sehr gut illustrierte Nacherzählung gelangen sie nicht hinaus.
Auch der Splitter Verlag wollte noch "mitmischen" und brachte 2010 Cromwells künstlerische Interpretation von Coopers Der letzte Mohikaner heraus. Mit Unterstützung von Catmalou verfolgte Cromwell einen bildgewaltigen wie erzählerisch sperrigen Ansatz. Die Stärke der malerischen Illustrationen werden durch das schwer lesbare Lettering zunichte gemacht.
2012 legte Splitter einen weiteren Literaturcomic nach: Fjodor Dostojewskis Der Spieler von Stéphane Miquel und Loic Godart.
Die beiden Franzosen heben bestimmte Aspekte der Vorlage in atmosphärisch dichten und satirischen Illustrationen sehr gut hervor, jedoch gehen die Zusammenhänge aufgrund von Kürzungen des Originals etwas verloren.
2011 stieg auch der Suhrkamp Verlag in das Literaturcomic-Geschäft ein. Der renommierte Literaturverlag publizierte Nicolas Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Alte Meister. Bernhards Komödie wird bei Mahler in cartooneske Bilder gebannt, die ganz dem lakonischen Humor der Vorlage entsprechen, aber zu selten überraschende oder zündende Ideen ins Spiel bringen.

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Special vom: 27.08.2012
Autor dieses Specials: Marco Behringer
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F.W. Tempel
Zuletzt gefragt: Klaus Scherwinski
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