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Interview mit Christian Gossett Teil 1
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Es folgt ein Auszug aus einem Online-Interview, geführt mit Dave Thomer von NotNews.org, einer zum Nachdenken anregenden Website, die für Studenten der Amerikanischen Politwissenschaften wie auch aufmerksame Betrachter der generellen Kultur ein Muss ist. Aus Platzgründen ist dieser Abdruck gekürzt. Wenn Ihr mehr lesen möchtet und des Englischen mächtig seid, könnt Ihr unter www.notnews.org/2000-12/comics.html (engl.) noch mehr von Gossetts heißer Luft bestaunen. ;-)

DT: Beschreib doch bitte für diejenigen unter uns, die sich mit Comics vielleicht nicht auskennen, den kreativen Prozess von „The Red Star“ und inwiefern er sich von einem herkömmlichen modernen Comic unterscheidet.

CG: Witzigerweise ist der auch für die meisten Leute ein völliges Rätsel, die sich knallhart mit Comics auskennen. Mehr und mehr Leute kommen auf mich zu, die die Originalseiten von „The Red Star“ erwerben wollen, dabei gibt es gar keine. Jede Seite von „The Red Star“ ist zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen visuellen Elementen. Diese Elemente werden separat erschaffen und dann in Photoshop für die finale Veröffentlichung zusammengefügt. Die einzigen „Seiten“ sind die digitalen Daten, die wir zur Druckerei schicken. Nur sehr wenige Comics handhaben das so. Nun aber, da wir gezeigt haben, dass die Hochzeit von Computer und Comic viele praktikable verlegerische Alternativen eröffnet, werden mit der Zeit weitere folgen.

comic1_klein.jpg DT: Wie wirkt sich die Anwendung von CGI auf deine Erzählweise aus – was lässt sie dich tun, was du sonst nicht für möglich halten würdest?


CG: CGI (computer generated imagery – computergenerierte Bilder) ist ein sehr vielseitig anwendbares Werkzeug. Um euch ein Beispiel für seine Möglichkeiten zu geben, stellt euch nur mal vor, auf wie viele Weisen ihr es vielleicht schon selbst angewendet saht. Ob nun vor langer Zeit bei den Lichtschiffen im unterschätzten Kinofilm „Tron“, bis aktuell hin zu Pixars „Toy Story“-Reihe und wieder zurück zu George Lucas, etc. pp. Man kann flache, grafische Stilrichtungen einschlagen, fotorealistische, surreale, das ist uferlos. Team Red Star kam es darauf an, einen Weg zu finden, mit Computer-Grafiken die extreme Tiefe und mythische Überhöhung der Geschichte zu betonen. Der 3D-Künstler Allen Coulter war ein echter Glückstreffer. Wir lernten uns kennen, während wir an einem Playstation-Game für Activision (Pitfall 3D) rackerten und die Arbeit des anderen wirklich zu schätzen lernten. Wir beschlossen, uns diesem verrückten Experiment zu verschreiben, und die Testergebnisse waren so umwerfend, dass sie uns voller Enthusiasmus in den Prozess entließen. CG anzuwenden, hat es uns ermöglicht, die Seiten auf eine Weise aufzustemmen, die mir schon immer vorgeschwebte. Während meiner Arbeit an „Star Wars“ stritt ich mich wegen der Panel-Anzahl auf den Seiten ständig mit meinen Autoren herum. Ich wollte die „epische Bandbreite“ in Sachen Comic neu definieren. Ich wollte einen größeren Bogen spannen, vor dem das Drama und die emotionale Note im Verlauf der Geschichte ausgebreitet werden.

Das bedeutete, ich würde Einstellungen, die traditionell recht klein daherkämen, zu gigantischen Proportionen aufblasen. In Heft 1 etwa beginnen die Seiten 10-11 mit einer Großaufnahme von Mayas Augen, die über beide Seiten ragen. In jeden anderen Comic würde es ein solches Bild nie im Leben schaffen. Es würde geopfert werden für den Drang, nur noch eine weitere Kampfszene aufzufahren, in der Gut und Böse mit gebleckten Zähnen und geballten Fäusten auf die Kamera zusprinten. Während die meisten Comics auf einem Plot basierende Action bieten, entscheiden wir uns für ein auf Figuren basierendes Drama. Außerdem waren wir gerade eben noch in der Wüste, wo Meilen um Meilen Entfernung zwischen uns und dem Horizont lagen, während gigantische Schiffe über uns schwebten, bevor wir auf diesem extremen Close-Up enden. Es sind also nicht nur die Größen der Panels extrem, sondern auch die Bandbreite der „Bewegung“ zwischen den Panels (oder „Schnitten“, wie wir es gerne nennen) ist es.

Ein weiterer Aspekt unseres Prozesses, der ebenso „CG“ wie „3D“ ist, wäre Photoshop. Unser Kolorist, der berüchtigte Snakebite, gesellte sich zu dem Projekt, um die Figuren sowie die meisten Nicht-3D-Aspekte der Seiten zu kolorieren. Und er übernimmt das grundlegend wichtige Compositing, bei dem er Allens 3D-Bausteine und meine 2D-Zeichnungen zum schlussendlichen Bild zusammenfügt. Es gibt nicht viele Koloristen in der Branche, die so einen Zaubertrick hinbekommen. Figuren mit der Subtilität zu kolorieren, die es braucht, um sie in eine 3D-Umgebung integrieren zu können, ist beileibe kein Automatismus und erfordert ein höchst ausgeprägtes Gespür.

Zu diesem Zeitpunkt meiner Laufbahn bin ich ein großer Anhänger des großen Panels und von doppelseitigen Bildkästen. Diese Panels haben einen schlechten Ruf in der Szene, was meiner Meinung nach blinde Ignoranz ist. Vielen spukt die veraltete Vorstellung durch den Kopf, dass es bei Comics um viele Panels auf einer Seite ginge, und ich finde dieses Vorurteil einfach köstlich. Die Anwendung von 3D stellte eine Verschwendung dar, wenn die Panels nicht groß genug wären, um der wunderbaren Arbeit, die unser Team leistet, den nötigen Rahmen zu bieten.

comic2_klein.jpg DT: Wo wir schon von großen Panels und doppelseitigen Bildkästen sprechen – ich habe gehört oder gelesen, dass viele Leute anmerken, bedingt dadurch hätte man jedes Heft schnell durchgelesen. Wie maximiert man mit einer großen Bildfolge den Wert der erzählerischen Komponente? Schenkst du diesem Punkt Aufmerksamkeit? Und denkst du, das traditionelle Comicmagazin stellt das richtige Format dar für ein auf Figuren basierendes Drama, anstatt einer auf einem Plot basierenden Actiongeschichte?

CG: Ich bin immer wieder überrascht, wenn jemand auf einer Convention zu mir sagt, „Hey, das Buch liest sich zu schnell – ich will mehr!“. Das hat mich wirklich gestört, bis Snakebite sagte „Es ist nie ein Problem, wenn dein Publikum nach mehr von dem verlangt, was du anbietest.“ Und er hat absolut Recht – es ist nicht so, dass wir dem Leser weniger geben. Tatsächlich hat „The Red Star“ mehr Seiten auf den Rippen als fast jeder andere Comic dort draußen. Wir kommen durchschnittlich auf 24-26 Seiten Geschichte pro Heft. Das ist deutlich mehr als die typischen 22 Seiten.

Wenn mein Team nun 26 Seiten Story produziert, die so fesselnd sind, dass sie sich wie eine 12-seitige Geschichte anfühlen, und wenn der Rest der Branche 22 Seiten so in die Länge zieht, dass sie schier unendlich scheinen, welches Team erschafft nun Drama? Welches Team dringt wirklich vor in die Köpfe seiner Leser und macht es ihnen unmöglich, das Heft wegzulegen?

Was den letzten Teil der Frage angeht, so denke ich eindeutig, dass das 32-Seiten-Format klar definierte Grenzen hat. Wenn ich Shirows „Appleseed“ lese, in dem eine einzelne Gesprächsszene zwölf Seiten lang sein kann, oder sich eine Kampfszene über 40 Seiten erstreckt, werde ich sehr neidisch. Neidisch auf das elaborierte Format, in dem es möglich ist, einem dramatischen Thema tatsächlich zu folgen, und sehr neidisch auf Shirows Kultur und seinen Absatzmarkt. In Japan werden Comics nicht dämonisiert – Comicleser müssen sich nicht dafür schämen, diese Form der Unterhaltung zu unterstützen. Das amerikanische Standard-Heftchen mit 22 Seiten pro Geschichte ist nur so gut wie die Kreativen, die innerhalb solcher Begrenzungen tätig werden. Weder braucht es Länge für Größe, noch garantiert sie das Gelingen. Haiku beispielsweise ist unglaublich sinnträchtig, und doch brauchte er nie mehr Silben, als die Form erfordert.

comic3_klein.jpg DT: Da das allegorische Wesen der Geschichte heftig beworben wurde, wie balancierst du Geschichtstreue (da manche die Serie vielleicht lesen, um eine Art „Wahrheit“ über die UdSSR zu erfahren) mit den Anforderungen der Geschichte, die du erzählen willst (und die mehr sein soll als eine bloße Nacherzählung)?

CG: Eine gute Frage. Es gab eine Zeit, da dachte ich, dass ich den allegorischen Aspekt aus eben diesem Grund nicht betonen würde. Ich hatte die Wahl und dachte mit meinem Schreibpartner Bradley Kayl intensiv darüber nach. Sollten wir das Quellmaterial, in diesem Fall die Geschichte Russlands, unerwähnt lassen und lediglich ein weiteres Action-Abenteuer vom Stapel lassen? Sollten wir es den Lesern überlassen, selbst darauf zu kommen? Würden sie? Als der Schreibprozess voranschritt, wurde mir jedoch klar, dass diese Geschichte ihrer Vorlage so viel schuldete und dass ich einfach nicht im Stande war, die Stimmen zum Verstummen zu bringen, die sie inspiriert hatten: Die Fotografien milchgesichtiger Soldaten, die ihr Leben dafür gaben, um Hitler an der Ostfront zu besiegen. Die Briefe der Künstler, in denen sie Stalin anflehten, sie am Leben zu lassen oder wenigstens ihre Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Testament des Alexander Solschenizyn, in dem er von Millionen Landsleuten sprach, die geopfert wurden auf dem Scheiterhaufen der bolschewistischen Modernisierung. Die Liste ist so ausufernd, sie ist in jeder Hinsicht unendlich. Ich war zu begierig darauf, diesen Leben die verdiente Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Diese Entscheidung hat sich für uns und, bis jetzt, auch für unsere Leser als unglaublich befriedigend erwiesen. Ich nehme an, eine Menge Autoren würde das als Fußfessel ansehen, aber für uns ist es eine reine Freude. Ebenso, wie unsere Bilder 2D- und 3D-Elemente zu einem geschmeidigen Ganzen verschmelzen, verweben unsere Worte Fakt und Fiktion zu einer Erzählung, die uns mit ihrer expansiven Natur immer wieder aufs Neue überrascht. Ein Beispiel, das noch auf seine Veröffentlichung harrt, führt uns zu einem sehr wichtigen Moment in der Geschichte Russlandes des 20. Jahrhunderts, der Verhaftung und Ermordung von Zar Nikolaus II. und seiner Familie. Beim ersten Hinhören klingt das nach einem sehr drögen Material für einen Comic. Und doch wird der Zarenmord, wie auch viele andere historische Ereignisse, durch unseren etablierten Stil der Allegorie auf sehr aufregende, sehr dramatische Weise für „The Red Star“ adaptiert.

Der Kniff liegt darin, die Handlung für Geschichtskenner und Uneingeweihte fesselnd zu gestalten. Da liegt der Haken, denn wir betonen nicht, welche Aspekte unserer Handlung metaphorisch sind und welche historisch fundiert. Das müssen die Leser unterscheiden und ist somit unser Versuch, das Publikum einzubinden. Was auf den Seiten als Metapher dargestellt wird, ist ein Abbild eines historischen Ereignisses. Ein Beispiel ist Mayas Transformation in Heft 1. Oberflächlich verwandelt sich hier eine sehr anziehende Frau in eine Säule zerstörerischer Energie, doch auf der metaphorischen Ebene gelingt eben das allen Soldaten, die für ihr Land töten. Ihre Worte lauten: „Dann, endlich, umhüllt Stille meinen Geist… ich bin der lodernd heisse Zorn meiner Nation … ich bin der flammende Wille des Staates“. Wir hier im Westen neigen zur Bemerkung, „diese armen Russen hatten unter den despotischen Kommunisten zu leiden“, doch wir begreifen nicht, dass diese selbstgerechten Mitleidsbekundungen uns nur dazu bringen, unsere eigenen patriotischen Fußfesseln nicht zu bemerken. Mayas Loyalität, die sie ihre Individualität kostet – für dieses Prinzip sind wir Menschen allesamt anfällig. Nach dem Fall der Sowjetunion ist es nunmehr unsere eigene hurrapatriotische Verblendung, die wir bemitleiden sollten. Wir hoffen, dass wir die Leser durch das Ergründen dieser Themen so aufscheuchen, dass die historische Lektion profund wird. Ein ambitioniertes Ziel, aber rein zufällig geht die Reise in unseren Künstlerköpfen nun mal gerade dorthin. Bis jetzt, Gott sei Dank, sind wir auf eine wachsende Leserschaft gestoßen, die die rätselhafte Natur unserer Geschichten zu schätzen weiß. Wir hoffen, dass dies so bleiben wird.

DT: Ihr erzählt eine Geschichte über sehr edelmütige Personen, die von Führern geknechtet werden, die ihres Volkes eigentlich gar nicht würdig sind. Was denkst du, was macht die Landsleute der VRRS (und in der Allegorie der früheren Sowjetunion) dazu?

CG: Wie Maya in Heft 3 sagt: „Alle Führer dieser Welt … sie sind Lügner, allesamt! Unbedeutende Herren mit unbedeutenden Plänen …“ Daran glaube ich. Das gilt nicht für Russland, was ein extremes Beispiel darstellt. Die meisten Staatsmänner dieser Welt sind selbstsüchtige Lügner und stehen somit für die schlechtest möglichen Urquelle menschlicher Erfahrung, aus der Führungspersonal rekrutiert werden könnte. Das gilt nicht nur für unsere Gegenwart, sondern zieht sich durch die Geschichte. In unserem Land gibt es viel Edelmut, und doch haben wir übermäßig viele possenreißende Gallionsfiguren auf die Sitze der Macht gewählt.

„The Red Star“ wird auch von der internationalistischen Geisteshaltung der früheren Russischen Revolutionäre geprägt. Keine Geschichte über die sowjetische Ära wäre vollständig, räumte sie der Agitation nicht den angemessenen Platz ein. Wie ein Autor mit dem Thema der populistischen Agitation umgeht, sagt viel über seine eigene Position in dieser Sachfrage aus. Was mich anbelangt – und ich weiß, Bradley geht es genauso –, wir plädieren lautstark für den radikalen politischen Umbruch. Diese politische Warte ist eine der subtilsten Inspirationen für die Festlegung auf dieses Material. In dieser Facette unserer Arbeit ruht der Kern der Geschichte: Was kann man aus dem Kalten Krieg lernen? Wieso gab es diese Institution der Paranoia überhaupt? Wieso versagt die weltweite Hegemonie unserer Nation einem Großteil ihres Volkes den utopischen Lebensstil, den man uns versprach für den Fall, dass wir die „Bedrohung durch den Kommunismus“ je überwinden würden? Unserer Meinung nach sind diese Fragen von entscheidender Bedeutsamkeit, und diese Überzeugung offenbart das, was man unsere These nennen könnte: Die größte Ironie des 20. Jahrhunderts ist, dass sich die USA durch das Überdauern der Sowjetunion nicht etwa von irgendeinem Kampf befreit hätten, sondern nur ihre eigene tyrannische Natur offenbart haben. Und ferner, dass unsere Nation mit jeder weiteren Konzernverschmelzung, mit jeder weit ausholenden Deregulierung, die erst der Fall unseres größten ökonomischen Rivalen ermöglicht hat, weiter voranschreitet auf dem Pfad der rücksichtslosen ökonomischen Zentralisierung, die in dieser Form in der Moderne nur mit Lenins Russlands vergleichbar ist.

Weiter geht es im zweiten Teil des Interviews.
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Special vom: 26.01.2007
Autor dieses Specials: Cross Cult
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Einleitung von Brian Michael Bendis
Interview mit Christian Gossett Teil 2
Bildergalerie
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