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Kannibalistische Rituale
Wir lasen immer, und wir lasen in allen Lagen, ganze Mitwachnachmittage und Wochenenden lang, das drängende Mahnen der Eltern im Ohr, wir sollten doch endlich die Hausaufgaben machen. Wir sammelten stattdessen Hefte und tauschten sie, wir schnitten die Figuren aus und klebten sie zu neuen, grotesken Geschichten zusammen. Wir kombinierten die Comiczeichnungen mit Fotografien aus der realen Welt, so dass es vorkommen konnte, dass unbeliebte Verwandte vom Phantom erdrosselt oder erschossen wurden. Ein gut befreundeter «Zack»-Leser, der später Geschichte studierte, fand im Stadtanzeiger ein Bild unseres Gemeindepräsidenten, das er in einem besonders blutigen Arrangement zum Gegenstand eines kannibalistischen Rituals machte.

Auf dem Pausenplatz wurden über den Bildergeschichten ideologische Grundsatzdebatten ausgefochten. «Fix und Foxi»-Leser wurden gnadenlos verachtet. Wer mit «Donald Duck»-Heften oder Disneys «Lustigen Taschenbüchern» ertappt wurde - was auch mir ein paar Mal widerfuhr -, hatte mit Vergeltung zu rechnen. Am schlimmsten terrorisiert wurde eine kleine, aber militante Fraktion an «Asterix»-Strebern, bei denen ruchbar geworden war, dass sie die Alben nur deshalb lasen, weil die Lehrer im Hinblick auf die Gymnasialprüfungen ihren Eltern dazu geraten hatten. Der pädagogische Wert der in die Geschichten eingeflochtenen Lateinvokabeln galt als ähnlich hoch wie der ästhetische Gehalt der «Tim und Struppi»-Bände, so dass auch dieser Comic, dessen Bedeutung ich erst viel später respektieren lernte, für uns nicht in Frage kam. Wir erblickten unsere Mission in einer höheren Form der Dissidenz, für welche die Massen einfach noch nicht bereit waren. Wir sahen uns als Avantgarde einer ästhetischen Rebellion, die aus heutiger Warte vielleicht lächerlich erscheinen mag. Aber in einer Stadt wie Kloten, wo ein gewählter und von allen Eltern geschätzter Primarlehrer noch 1975 seinen Job verlor, nur weil er mit der Frau des Lokalzeitungsverlegers ein Verhältnis hatte, waren die Spielräume nun einmal enger gesetzt als anderswo.


Special vom: 14.07.2004
Autor dieses Specials: Roger Köppel (Text) und Vera Hartmann (Fotos)
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