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Comic-Besprechung - Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB
Geschichten:Autor und Zeichner: Tardi

Jacques Tardi ist ein Besessener. Besessen ist er vom Krieg und von den Dämonen, die der Krieg in den Menschen weckt. Nach seinem bedrückenden Meisterwerk Elender Krieg, worin er den Ersten Weltkrieg buchstäblich nachgezeichnet hat, folgt nun das Vaterbuch, der Vatercomic mit dem sperrigen Titel Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB. Grundlage des Comics sind vor allem die auf drei Hefte verteilten Aufzeichnungen, die Tardis Vater René erst rund vierzig Jahre nach seiner Kriegsgefangenschaft (1941-45) niedergeschrieben hat, aber auch das unendlich reichhaltige dokumentarische Material, das Tardi selbst, seine Frau, sein Sohn und seine Tochter während vieler Jahre akribisch zusammengestellt haben. Trotz dieser Basis ist sein Comic nicht bloß ein Geschichts- oder gar ein Familienbuch. Tardi erlaubt es seinem Vater zwar, die Geschichte aus seiner Sicht zu erzählen, aus der Sicht dessen also, dem sich das Geschehene ins Fleisch gegraben hat, den es verfolgt hat bis ans Ende des Lebens. Dennoch steht dieser René Tardi beispielhaft für eine ganze Generation durch den Krieg und die Unmenschlichkeit des Krieges traumatisierter Menschen; sein individuelles Schicksal ist in Wahrheit das Schicksal aller Menschen, die im Krieg ums Überleben kämpfen und darum ringen, inmitten der gewaltigen Sinnlosigkeit ihren Verstand nicht zu verlieren. Sich selbst bringt Tardi auch in die Geschichte ein, als einen Jungen in Kniehosen, der gelegentlich Fragen stellt und die Erzählung des Vaters - zuweilen etwas naseweis - kommentiert. Mit ihm kehrt das einzige dialogische Element in den Comic ein, der ansonsten allein aus monologischen Captions und den sie begleitenden, Tardi-typischen Zeilenpanels besteht. Gemeinsam mit dem Vater besichtigt der verjüngte Autor-Sohn sozusagen die Vergangenheit und macht sie auf diese Weise auch zu seiner eigenen Geschichte (die es ja im Grunde genommen immer schon ist). Das ist ein großartiges narratives, genauer gesagt: metafiktionales Experiment, und es funktioniert ausgezeichnet. Nicht allein um die historische Wahrheit der Tatsachen und Ereignisse, nicht allein um „historische Faktentreue“ (wie Dominique Grange im Vorwort schreibt) geht es Tardi, sondern vor allem um die Bedeutung dieser Ereignisse und Fakten für seinen Vater, für sich selbst, für uns Leser. Zu den Grundlagen der Comic-Poetologie Jacques Tardis gehört die Einsicht, dass wir die Vergangenheit nicht in objektiver Form besitzen können, sondern immer nur so, wie sie sich im Hier und Jetzt für uns darstellt. Das macht ihn nicht zum Historiker; wohl aber zu einem, der die Historie für seine Zeitgenossen anschaulich werden lassen kann.
In diesem ersten Band der auf zwei Bände verteilten Erzählung berichtet Tardis Vater vom Ausbruch des Krieges, von seinem Dienst als Panzeroffizier, von seinem Sabotageversuch, seiner Inhaftierung durch die Deutschen Anfang Mai 1940 und der anschließenden vierjährigen Internierung im Strafgefangenenlager Stalag IIB bei Hammerstein im heutigen Polen. Besonderes Gewicht liegt auf der Schilderung des stumpfsinnigen Lageralltags, der vom Hunger und Elend und Dahinvegetieren der Gefangenen beherrscht ist. Das ist deprimierend zu lesen, aber die Depression hat glücklicherweise nicht das letzte Wort. Tardi berichtet nämlich auch davon - und hier liegt der eigentliche Akzent seiner Erzählabsicht -, wie sich hinter dem Rücken der Deutschen, inmitten all der quälenden Hoffnungslosigkeit, eine Art humane Souveränität der Gefangenen herausbildet, die in der Sabotage der regelmäßigen Appelle ihren ersten Ausdruck findet, dann zur Bildung eines Schwarzmarktes führt, zur heimlichen Übernahme der sogenannten Zahlmeisterei und schließlich zum Ausbau eines Informationssystems, das vor allem auf den sorgsam versteckten Radioempfängern beruht. Dabei ist es bewundernswert, wie es Tardi gelingt, seinen Vater nicht als einen besseren oder besonderen Menschen darzustellen oder ihn sonstwie zu verklären. Dieser René Tardi ist im Grunde genommen einer von vielen, nur dass es ihm obliegt, die Geschichte dieser vielen zu erzählen. Das macht ihn weder sympathisch noch unsympathisch; er ist ein Mensch, der mit anderen durch die Hölle gegangen ist, nicht mehr und nicht weniger.
Der Comic endet mit der Evakuierung des Lagers am Morgen des 29. Januar 1945. Der Marsch der Gefangenen nach Osten, der sich unter katastrophalen Bedingungen über drei Monate erstreckten sollte, wird Gegenstand des kommenden Bandes sein (der auf Deutsch am 7. April 2015 erschienen ist).
Fazit:
Jacques Tardi hat in "Stalag IIB" erneut seine Meisterschaft unter Beweis gestellt, den "elenden Krieg" zeichnend und erzählend ins Bewusstsein zu rufen. Wie er mit einfachsten Mitteln in die Tiefe der menschlichen Seele führt, ist eine Kunst, die nur den ganz Großen des Comics zu Gebote steht.

Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB
Autor der Besprechung:
Marco Schüller
Verlag:
Edition Moderne
Preis:
€ 35.00
ISBN 10:
3037311126
ISBN 13:
978-3037311127
200 Seiten
Bewertungen unserer Redaktion und unserer Leser

- Großartiger Comic über das Elend in einem Strafgefangenenlager des Zweiten Weltkriegs
- Sprachlich herausragend
- Anspruchsvolle Erzählform
- Meisterhafte künstlerische Umsetzung in Zeichnung und Farben


Die Bewertung unserer Leser für diesen Comic | ||
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Rezension vom: | 25.05.2015 | ||||||
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