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Comic-Besprechung - Pinocchio

Geschichten:
Autor/Zeichner: Winshluss

Story:
Wer kennt nicht die Geschichte von Pinocchio von dem Italiener Carlo Collodi? Die Erzählung von der lebenden Puppe, die von Geppetto aus einem Stück sprechenden Holz geschnitzt wird. Die daraufhin allerlei Abenteuer erlebt, begleitet von einer Grille, und immer wieder aufgrund von Unehrlichkeit, Faulheit oder Ungehorsam Lehrgeld zahlen muss, bis sie schließlich sogar von einem riesigen Walfisch verschlungen wird. Am guten Ende ist Pinocchio geläutert und wacht sogar als echter Junge aus Fleisch und Blut auf.

Der Franzose Winshluss kennt die Geschichte auch, doch bei ihm liest sie sich wie folgt: In seiner Welt ist Geppetto ein geldgieriger Erfinder, der einen Kampfroboter von der Gestalt eines kleinen Jungen entwirft, ein Blechkumpel, der - wenn es sein muss - aus der Nase Feuerfontänen speien kann wie ein Flammenwerfer. Pinocchio ist ebenjene Metalfigur, die stumm und passiv wie ein Spielball durch die Handlung gerät, oft Ziel der Begierde von den verschiedensten Personen, die er auf seinem Weg durchs Leben so trifft. Selten wiederfährt ihm Gutes. Geppettos Frau missbraucht ihn als Lustobjekt. Vom bösen Fabrikbesitzer wird er zu entwürdigender Kinderarbeit gezwungen. Von einem obdachlosen Straßenjungen bekommt er statt einer Begrüßung erst mal eins auf die Glocke.

Die Grille, in Collodis Romanvorlage eher ein Symbol für das Gewissen der Marionette, heißt bei Winshluss „Jiminy Wanze“ und ist eher ein dubioser, mürrischer und verwahrloster Charakter, als eine hilfsbereite Vertrauensperson. Obendrein lebt das verdreckte Insekt heimlich in Pinocchios Oberstübchen, liest Bücher wie Dostojewskis Der Idiot oder schreibt Romane wie Die Mechanik der Leere, um mit sich selbst und der Welt klar zu kommen.

Auf seiner Reise durch eine völlig pervertierte Welt muss Pinocchio so einiges einstecken. Anders als bei der literarischen Vorlage Collodis, ist in der Geschichte des kleinen Roboters kein Happy-End in Sicht.

Dieser Comic wurde mit dem Splash-Hit ausgezeichnet Meinung:
Ganze drei Jahre, von 2003 bis 2005, schrieb und zeichnete Winshluss an Pinocchio. Hinter dem gewöhnungsbedürftigen Namen Winshluss verbirgt sich der 1970 geborene Franzose Vincent Paronnaud, der sich als vielseitiger Künstler oder als Regisseur des in Cannes preisgekrönten Films Persepolis einen Namen gemacht hat. Bevor das fast 200seitige Opus in einem Guss als Buch veröffentlicht wurde, kamen die Leser des innovativen, französischen Magazins FERRAILLE ILLUSTRÉ in den Genuss der Geschichte. Als das Gesamtkunstwerk im Jahre 2008 schließlich auf den Markt kam, sahnte es kurz drauf auf dem berühmten Comic-Festival in Angoulême den Preis als Bestes Album ab. Und das ist mehr als gerechtfertigt.

Dennoch: Der typische Comic-Fan, der die franco-belgische Schule schätzt und sich den Kopf zerbricht, ob er die École Marcinelle oder doch lieber die Ligne Claire besser findet, wird Pinocchio nicht auf dem Einkaufszettel haben. Das Gleiche gilt für den typischen Manga-Verschlinger oder den Standard-Superhelden-Leser. Und dem Freund von Alternativ- und Underground-Comix ist die voluminöse Schwarte womöglich gar zu teuer.

Selten gab es einen Comic, bei dem jegliche Vorverurteilung ein fataler Fehler wäre. Die voller Wirkung von Pinocchio entfaltet sich erst bei der eigentlichen Lektüre. Es sieht oberflächlich betrachtet  aus wie ein Underground-Comic, wie eine Mischung aus Chris Ware vom Design des Umschlags und Jean-Marc Reiser von den Wanzen-Zeichnungen im Innenteil. Manchmal etwas hastig, etwas unbeholfen, oftmals aber auch sehr gekonnt. Es sind Einflüsse der US-Comics der 20er und 30er Jahre vorhanden, Emotionen im Stile von Disney, absurde Komik à la  Herrimans KRAZY & IGNATZ, direkte und schonungslose Gewalt wie geradewegs aus dem Hause EC Comics der 50er, und Sex wie bei einem modernen Comic. Naive Comickunst gepaart mit schonungslos exzessiver Härte.

Anders als bei der literarischen Vorlage, ist der Pinocchio von Winshluss eine passive Figur. Die Aktionen seiner Umwelt halten der Welt einen Spiegel vor, oftmals mit erschreckender Wirkung, denn es wird nichts ausgespart. Da trifft Schneewittchen auf sieben Zwerge, die sich als sexbesessene sado-masochistische Gnome entpuppen. Die unschuldigen Kinder auf der Insel verwandeln sich nicht in dumme Esel wie im Roman, sondern in gefährliche, kriegslüsterne Wölfe, deren Flagge überkreuzte Süßigkeiten auf rotem Grund zeigt, ähnlich einem Hakenkreuz. Pinocchio, der sich nicht in eine reißende Bestie verwandeln kann, wird kurzerhand aufgehängt. In den regelmäßig eingestreuten Episoden mit der Wanze geht es mit bitter-ironischer Kritik an der Gesellschaft unbarmherzig direkt zur Sache.

Die Zeichnungen sind bei näherer Betrachtung enorm vielseitig. Es kommen mehrere Stilmittel zum Einsatz. Die Erzählungen von Jiminy Wanze werden in einem reduzierten, gekritzelten Schwarz-Weiß-Stil vermittelt. Rückblenden in der Hauptgeschichte sind in spartanischen Duo-Tönen gehalten. Oftmals unterbricht auch ein ganzseitiges, farblich wunderbar stimmig ausgearbeitetes Motiv das Geschehen und lädt zu ausgiebiger Betrachtung ein.

Das Buch ist eine wahre Fundgrube von Anspielungen. Man hat eine schiere Freude daran, die jeweilige Assoziation, den Hinweis oder das Versatzstück aus anderen Geschichten und Gebieten zu entdecken. Dabei kommt die Story wohlgemerkt, bis auf die Episoden mit der Wanze, fast gänzlich ohne Worte aus. Dies lässt sowohl universelle als auch individuelle Interpretationen zu und führt zu reichlich Hirnnahrung und Gesprächsstoff nach beendeter Lektüre.

Die gesamte Aufmachung des großformatigen Hardcovers ist exzellent. Hier hat der Avant Verlag alle Register gezogen, inklusive einer passenden Papierwahl. Somit ist der Preis ist voll gerechtfertigt. Ein echter, schön auszusehender Schinken im positiven Sinne.

Fazit:
Ja, das ist nicht der Pinocchio, den unsere Eltern kennen. Winshluss hat eine lustige, fiese, satirische, ironische, schonungslose, faszinierende und wunderschön editierte Geschichte geschaffen. Es ist keine von diesen Schönheiten, die einen direkt und oberflächlich bis in die Niederungen der Unterhose betören. Hier wird man eher vom „Liebe-auf-den-zweiten-Blick“-Effekt ergriffen. Und wenn es einen mal gepackt hat, dann wird man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. Schlimmer noch: Es wird einem immer wieder in den Sinn kommen. Wow!

Pinocchio - Klickt hier für die große Abbildung zur Rezension

Pinocchio

Autor der Besprechung:
Matthias Hofmann

Verlag:
Avant Verlag

Preis:
€ 29.95

ISBN 13:
978-3-939080-40-4

192 Seiten

Bewertungen unserer Redaktion und unserer Leser

Positiv aufgefallen
  • unter die Haut gehende Geschichte
  • faszinierende, besondere Zeichnungen
  • exzellente Aufmachung
  • fast schon ein moderner Klassiker
Negativ aufgefallen
Die Bewertung unserer Leser für diesen Comic
Bewertung:
1.86
(7 Stimmen)
Bewertung
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Rezension vom: 18.02.2010
Kategorie: One Shot
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