Comic-Werkausgaben haben derzeit Konjunktur. Die meisten davon sind auch in der Tat sehenswert. Man denke etwa an die kostbaren Bände der Bocola-Ausgabe von „Prinz Eisenherz“. Oder an die Manara-Werkausgabe, die der Panini-Verlag seit einigen Jahren veröffentlicht. Oder an die bibliophile Corto-Maltese-Neusausgabe, die Schreiber & Leser gerade gestartet hat.

Der Reiz solcher Sammlungen liegt zum einen in der meist hervorragenden buchtechnischen Verarbeitung der Comics (sehr gutes Papier, gestochen scharfer Druck, exzellente Farbdarstellung, Fadenbindung und fester Einband), zum anderen im Bonusmaterial, das den Bänden beigegeben ist. Das können Vorworte sein zur Entstehungsgeschichte des Comics, Interviews, fotografische Dokumentationen, Einblicke in die Skizzenbücher der Künstlerinnen und Künstler oder unveröffentlichte Illustrationen.

Die traurige Wahrheit ist, dass der zweite Band der Serpieri-Collection nichts davon enthält. Kein Vorwort, kein Nachwort, keine Skizzen, gar nichts. Es handelt sich also im Grunde genommen um einen Doppelband, der lediglich die beiden „Morbus Gravis“-Comics „Creatura“ und „Carnivora“ enthält. Dieser magere Inhalt ist möglicherweise auf die Rechtsstreitigkeiten zurückzuführen, die die Veröffentlichung der Serpieri Collection über Jahre blockiert hat, vielleicht auch auf den derzeitigen italienischen Lizenznehmer der Arbeiten Serpieris, den Verlag Lo Scarabeo, der eigentlich nicht für Comic-Veröffentlichungen bekannt ist, sondern für allerhand esoterischen Krimskrams, vor allem für seine (zweifellos exzellenten) Tarot-Decks. Wie dem auch sei: Der deutsche Verlag Schreiber & Leser hätte aber wenigstens den Übersetzer der Comics angeben können. So viel Ordnung muss sein – trotz rechtlicher Verwicklungen und welcher Hindernisse sonst auch immer. Wünschenswert wäre es auch gewesen zu erfahren, warum einige Seiten der Bände gegenüber dem Rest drucktechnisch stark abfallen (etwa S. 54 oder S. 74f). Sind hier die Originale verloren gegangen? Oder handelt es sich einfach um eine Panne in der Druckerei?

Kurz gesagt: Wer die beiden Bände in der alten Schreiber & Leser-Ausgabe schon sein Eigen nennt, braucht diese Werkausgabe nicht. So muss man es klipp und klar sagen. Da hilft es auch nichts, dass der Verlag – aus etwas zweifelhaften Gründen, wie man sich denken kann – damit wirbt, die Neuausgabe sei jetzt ungekürzt. Was immer dies heißen mag, es wird den Durchschnittsleser, den keine editionswissenschaftlichen Interessen umtreiben, ohnehin nicht interessieren. Alle anderen mögen die alten neben die neuen Comics legen und Bilder vergleichen. Das Ergebnis dürfte manch einen glücklich machen, der aus der der (porno-)graphischen Explizitheit der Druuna-Serie ein gewisses Vergnügen zieht; an der Geschichte, die Serpieri zu erzählen hat, wird sich durch nun endlich sichtbare Geschlechtsteile und Geschlechtsverkehre aber nicht viel ändern.

Über diese Geschichte wäre nun auch noch zu reden. Die ersten beiden Bände der „Morbus Gravis“-Reihe gehören sowohl graphisch als auch erzählerisch durchaus zu den besseren dystopischen Werken, die der europäische Comic in den 80er Jahren hervorgebracht hat, und auch wenn man ihnen oft unterstellt hätte, dass sie die Story in den Dienst der hübschen, halbnackten Hauptdarstellerin stellen würden (und nicht umgekehrt), so sind die Bände doch unterhaltsam genug, um den Leser bei Laune zu halten. Das gilt leider nicht mehr so uneingeschränkt für die beiden Nachfolgebände „Creatura“ und „Carnivora“. Keine Frage, Serpieri zeichnet immer noch zum Niederknien (zumindest, wenn man eine Schwäche für solch einen streng naturalistischen Schraffurstil hat). Aber die postapokalyptische Story verliert sich zusehends in halbphilosophischen Andeutungen, verworrenen Raum-Zeit-Dimensionskonzepten, unmotivierten, sadomasochistischen Sexorgien und anderem esoterischen Zeug. Der Zusammenhang zum Vorgängerband „Delta (früher: Druuna)“ ist zunächst auch nur schwer herzustellen. Hatte sich Druuna dort am Ende noch auf den Weg gemacht, um Schastar, ihren mutierten Geliebten zu suchen, erwacht sie jetzt, nach wer-weiß-wie-langem Tiefschlaf (dessen Ursprung man erst am Ende versteht), orientierungslos in einer postapokalyptischen Welt, deren Einwohner durch ein gigantische Viszeral-Monster bedroht werden, das regelmäßig weitere, kleinere Monster ausspeit. Andere Monster haben sich in Klone der Menschen verwandelt, in deren Körpern sie sich – Ridley Scotts Alien lässt grüßen – als Parasiten eingenistet haben und Jagd auf die tatsächlichen Menschen machen. Dass all diese Wesen nicht nur blutgierig, sondern auch sexbesessen und abgrundtief pervers sind, versteht sich bei Serpieri von selbst. Und so schleppt sich die Story von einer Metzelei zur nächsten und zwischendrin vom Monster-Oralverkehr zum Monster-Analverkehr zur Monster-Vergewaltigung und – ja, auch das – zur blutigen Monster-Entbindung aus dem angeschwollenen Unterleib der Hauptdarstellerin. Es gibt sehr gute Gründe, das gewaltverherrlichend, frauenverachtend, trivial, würdelos oder einfach nur unfassbar dämlich zu finden.

Wie die ästhetische Begegnung mit „Morbus Gravis“ aber auch ausfallen mag, man muss Serpieri in jedem Fall bewundern, dass er seine zeichnerische Meisterschaft so viele, viele Jahre lang an diesen gewaltig aufgeblähten Stumpfsinn verschwendet hat. Vielleicht war das für ihn auch nur dadurch auszuhalten, nur dadurch der Mühe wert, dass er sich selbst, in der Figur des „Doc“, in die Geschichte hineingeschrieben und hineingezeichnet hat. Jedenfalls kommt er so am Ende – endlich, denkt sich der Leser – in den Genuss, die halbnackte, delirierende Druuna, die vor lauter Kopulationen und Zeitsprüngen nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht, in die Arme zu nehmen und mit sich fortzutragen. Schöner kann man Freuds These, dass jedes Kunstwerk in einem Tagtraum des Künstlers seinen Ursprung habe, nicht veranschaulichen.


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