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Grandville: Zwischen James Bond und Sherlock Holmes
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talbotBryan Talbot wurde am 24. Februar 1952 in Wigan, Lancashire geboren. Heute gilt der diplomierte Grafik-Designer als unermüdlicher Comic-Neuerer, Vater der britischen Graphic Novel und Wegbereiter des Steampunk-Genres. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, wird er hier und da sogar als der David Bowie der Comic-Branche bezeichnet.
Talbots erste Illustrationen wurden 1969 im Magazin der Britischen Tolkien-Gesellschaft veröffentlicht, 1971 zierte ein Cover von ihm das Magazin der British Fantasy Society. 1972 folgte der Strip Superharris in Talbots Studentenzeitung, ehe Talbot die britische Underground-Comic-Bewegung unsicher machte und sich hier u. a. zwischen dem Sujets Science Fiction und Detektivkrimi bewegte.
1978 schuf Talbot die ersten bahnbrechenden Abenteuer mit seinem Retro-Science-Fiction-Helden Luther Arkwright. Anfang bis Mitte der 1980er-Jahre fertigte Talbot überdies zahlreiche Illustrationen für Musik-Magazine an und war außerdem einer der frühen Illustratoren des deutschsprachigen Fantasy-Rollenspiels Das Schwarze Auge, dessen Welt er trotz seiner kurzen Wirkungszeit maßgeblich prägte. 1983 wurden erstmals Geschichten mit Talbots Artwork im legendären britischen SF-Comicmagazin 2000AD publiziert, und er arbeitete an Figuren wie Nemesis the Warlord oder Judge Dredd.
Ende der 1980er-Jahre setzte Talbot Luther Arkwrights Abenteuer fort. Garth Ennis, Warren Ellis, Grant Morrison, Stephen Bissette, Neil Gaiman, Alan Moore und andere preisen noch heute den Einfluss der Geschichten aus Talbots Multiversum, die eine Mischung aus Science-Fiction und historischem Spionage-Thriller sind und das erzählerische und künstlerische Vokabular des britischen Comics stark erweiterten – ähnlich der Wirkung von Michael Moorcock und Harlan Ellison auf das SF-Genre.
Seit Ende der 1980er-Jahre zeichnete Talbot für den US-amerikanischen Markt Titel wie Hellblazer, Sandman, Dead Boy Detectives, Fables, The Nazz und Teknophage. 1994 veröffentlichte er seine viel beachtete Graphic Novel Die Geschichte einer bösengrandville_2 Ratte, ein Comic über sexuellen Missbrauch, der sogar weltweit im Schulunterricht eingesetzt wird. Zu seinen weiteren Panel-Arbeiten zählen die 320 Seiten starke Graphic Novel Alice in Sunderland über die Verbindungen zwischen Lewis Carroll, der realen Alice Liddell und dem englischen Nordosten, das von ihm getextete Cherubs!, die von seiner Frau geschriebenen Comic-Romane Dotter of Her Father’s Eyes (über die Tochter von James Joyce) und Votes for Women: Der Marsch der Suffragetten (über das Frauen-Wahlrecht in England), und die unter dem Pseudonym Véronique Tanaka erschienene erotische Bildergeschichte Metronome.
Seit 2009 veröffentlicht Talbot zudem die gefeierte Steampunk-Serie Grandville in Albenform. Die Retro Utopie voller Blut und Liebreiz, wie die deutschen Bände auf dem Cover titeln, spielt in einer ausgeklügelten anthropomorphisierten  Alternativwelt und besticht als eine rasante, actiongeladene Mischung aus Ian Flemings James Bond und Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, angereichert mit Elementen aus dem Werk von u. a. Jules Verne und natürlich dem französischen Künstler J. J. Grandville (1803–1847). Die ersten drei Alben um den toughen Dachs und Scotland-Yard-Ermittler LeBrock sind auf Deutsch bei Schreiber & Leser erschienen. Im englischsprachigen Original bei Dark Horse bzw. Jonathan Cape existiert bereits ein vierter Band.
Abseits seiner Tätigkeiten als Comic-Künstler und Illustrator arbeitete Talbot noch als Lehrer, als Konzeptkünstler fürs Fernsehen und als Grafikdesigner für eine Werbeagentur und den britischen Luftfahrtkonzern British Aerospace. Außerdem veröffentlichte er unter dem Titel The Naked Artist ein Buch mit Anekdoten über die Comic-Industrie und seine Kollegen.
Für sein vielfältiges Schaffen wurde Bryan Talbot mit mehreren britischen Eagle Awards, einem Eisner Award, einem Inkpot Award für seine herausragende Leistungen innerhalb der Comic-Kunst, und einem Costa Book Award – einem der wichtigsten Literaturpreise Großbritanniens – ausgezeichnet. Darüber hinaus erhielt er für sein Lebenswerk auf dem Gebiet des grafischen Erzählens einen Ehrendoktor-Titel der Northumbria University in Newcastle.
Auf Deutsch erschienen neben den Nachdrucken der Sandman-Bestseller zuletzt bei Panini Talbots legendärer Bat-Zweiteiler aus Legends of the Dark Knight von 1989 als Heftspecial Batman: Die Maske zum Comicfestival in München, und die ersten drei Alben der Grandville-Serie. Im Dezember folgt Votes for Women: Der Marsch der Suffragetten beim Egmont Graphic Novel-Imprint. Mr. Talbots offizielle Website findet sich unter bryan-talbot.com.

Hallo Bryan. Kannst Du uns ein bisschen was über Deine Comic-Anfänge erzählen?
Ich lese seit meiner Kindheit Comics und habe so ein instinktives Verständnis der Kunstform entwickelt. Nach dem College schrieb und zeichnete ich fünf Jahre lang englische Underground-Comics für wenig bis gar kein Geld. Das war wirklich meine Lehrzeit im Comic-Medium. Mein Storytelling und meine Zeichenfähigkeiten verbesserten sich in dieser Zeit, und gegen Ende bekam ich in immer regelmäßigeren Abständen erste professionelle Jobs angeboten, bis ich mich 1981 als Fulltime-Comic-Künstler selbstständig machte.

Was bedeutet es für Dich, dass Du oft als Vater des Steampunks und der britischen Graphic Novel bezeichnet wirst?
Das ist nett, obwohl es Steampunk im Science-Fiction-Genre von Autoren wie Michael Moorcock schon gab, lange bevor es in Comics auftauchte. Ich denke, dass Arkwright aber tatsächlich die erste Steampunk-Graphic-Novel war.
Was die britische Graphic Novel angeht ... ich bin seit 1968, seit ich sechzehn Jahre alt gewesen bin, besessen von dem Gedanken, einen Roman als Comic in Buchform zu veröffentlichen.
Meine ursprüngliche Idee war ein ausuferndes, Tolkienesques Fantasy-Epos, das niemals Früchte trug. Mitte der 1970er griff ich die Idee für Luther Arkwright wieder auf. Ich schätze also, dass es darauf hinausläuft, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.

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In Grandville verbindest Du Steampunk und den Graphic-Novel-Gedanken. Du hast für die Abenteuer von LeBrock sogar eine neue Zeitlinie geschaffen, mit einem eigenen politischen, geografischen und sozialen Umfeld. Wie kamst Du auf all diese Ideen mit der französischen Besatzung Großbritanniens und dem ganzen Setting zwischen London und Paris?
Ich brauchte eine Welt, die von einem großen französischen Imperium mit Paris in seinem Zentrum dominiert wurde. Das schien mir am glaubhaftesten wahr werden zu lassen, indem ich Frankreich die Napoleonischen Kriege gewinnen und die unterlegenen Länder besetzen und ihre königlichen Familien guillotinieren ließ. Das war also mein Setting, nur eben zweihundert Jahre nach diesen Ereignissen angesiedelt. Ich wollte außerdem schon lange eine Detektiv-Geschichte schreiben, und so wurde Grandville ein Steampunk-Detektiv-Thriller.

Warum ist Alternativwelt-Science-Fiction so beliebt?
Ich denke, dass die Leute diese ganzen „Was wäre wenn?“-Szenarien lieben. Das kurbelt ihre Vorstellungskraft an. Es ist immer interessant, sich zu überlegen, was anders wäre, wenn sich der Verlauf der Geschichte verändert hätte.

Was ist an anthropomorphisierten Tierfiguren eigentlich so faszinierend? Sie haben ja eine lange Tradition, die auch Dein Grandville massiv beeinflusst hat ...
Was ihre Geschichte angeht: Anthropomorphisierte Charaktere gibt es schon, so lange Menschen Geschichten erzählen. In der Drei-Brüder-Höhle im Süden Frankreichs gibt es ein Bild aus der Jungsteinzeit, das eine menschliche Figur mit Hörnern und Schwanz darstellt. Sie tauchen in allen Mythologien und Religionen auf, egal ob der ägyptische Horus, Zeus und Ledas Schwan bei den Griechen, Ganesha bei den Hindus oder die Schlange im Garten Eden. Märchen und Folklore überall auf der Welt sind voll von ihnen, und sie waren auch Bestandteil der ersten gedruckten Comic-Strips. Allerdings fürchte ich, dass ich sie nicht wegen ihrer Geschichte nutze! Denn die Wahrheit ist nun mal, dass die anfängliche Inspiration für das erste Album die anthropomorphisierten Tiere in den Illustrationen von Jean Ignace Isidore Gérard waren, der das Pseudonym J. J. Grandville verwendete. Mir kam sofort der Gedanke, dass Grandville der Spitzname für Paris sein könnte, die größte Stadt in einer Steampunk-Welt.

War es schwer, für Grandville einen Verlag zu finden?
Dark Horse veröffentlicht mich jetzt schon ungefähr seit 1990. Ich musste nicht viel tun, um das Ganze an sie zu verkaufen. Herausgeber Mike Richardson schätzt meine Arbeit sehr und veröffentlicht mehr oder weniger jeden Comic, den ich mache.

Warum erscheint die Serie in abgeschlossenen Hardcover Bänden und nicht erst in Heftform?
Zum Teil liegt das wohl am Storytelling. Und es sieht wie ein altmodisches Buch aus: Eine spezielle Haptik, ein verziertes Cover und Steampunk-Vorsatzpapier. Außerdem hebt es sich so bewusst von Webcomics ab. Es ist für sich genommen ein schöner Gegenstand, der viel Freude bereite.

Du scheinst mir eh eine bibliophile Person zu sein. Was hältst Du von der digitalen Bewegung innerhalb des Comics?
Nun, sie wird von Dauer sein, aber ich bevorzuge echte Bücher. Darum versuche ich, meine Graphic Novels als hübsche Artefakte anzulegen, die man gerne besitzt und in die Hand nimmt, eben mit geprägten Covern und tollem Papier. Digitale Comics sind kein greifbares Erlebnis.

Weiter geht es in ZACK # 192 ...

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Special vom: 28.05.2015
Autor dieses Specials: Christian Endres
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F. W. Tempel
Die Artillerie: Ein Porträt des Künstlerateliers
Das Allerletzte
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