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Ein Nachruf auf Jean Giraud

Jean_GiraudDer Mann mit den zwei Gesichtern

Jean Giraud führte eines der interessantesten Doppelleben.
Unter seinem richtigen Namen wurde er als Zeichner der Western-Kultserie Leutnant Blueberry berühmt. Mit dem Pseudonym Moebius kennzeichnete er seine phantastischen Werke. Der Franzose arbeitete als Illustrator mit namhaften Autoren zusammen und bestritt in Eigenregie neue Pfade der Comicgeschichte. Der Comickünstler hat aber nicht nur den (franko-belgischen) Comic maßgeblich geprägt. Ob detailverliebt oder reduziert, schwarzweiß oder koloriert – sein Gespür für außergewöhnliche Designs öffnete ihm auch die Türen zu Hollywood. Dort wirkte er an SF-Blockbustern wie Alien mit. Zu Girauds Verehrern zählen Filmemacher wie Georg Lucas, Ridley Scott oder der Anime-Regisseur Hayo Myazaki.

Jean Alphone Caston Giraud wurde am 8. Mai 1938 nahe Paris in Nogent-sur-Marne geboren.
Seine Eltern trennten sich als er drei Jahre alt war. 1955 reiste er erstmals nach Mexiko, um seine Mutter zu besuchen, die dorthin gezogen war. Die mexikanische Natur hatte einen nachhaltigen Eindruck auf Girauds Werk.
Nachdem er seine Kindheit mit franko-belgischen, italienischen und amerikanischen Comics verbracht hatte, studierte er mit 16 Jahren Angewandte Kunst an der Pariser Académie des Beaux-Arts. Mit 18 realisierte er seinen ersten professionellen Comic für das Magazin Far-West: den Western Frank et Jéremie. Mitte der 1950er Jahre schlug er sich als unbekannter Comiczeichner mit Arbeiten für unbedeutende Magazine und Verlage wie Sitting-Bull, Frigounet et Marisette, Âmes Vaillantes und Coeurs Vaillants durch, für die er vor allem Western-Serien zeichnete.
Erst nachdem er seinen Militärdienst in Deutschland und Algerien absolviert hatte, wurde er von einer Comicgröße unter die Fittiche genommen: 1961 wurde Giraud Assistent von Joseph Gillain alias Jijé. So tuschte er u.a. für den Belgier eine komplette Episode der Westernserie Jerry Spring für das belgische Magazin Spirou. Von 1961 bis 1962 realisierte Giraud zudem mit Jean-Claude Mézières einen Band für die Hachette-Reihe L’Histoire des Civilisations. Als der Herausgeber und Autor Jean-Michel Charlier 1963 Jijé für eine neue Westernserie anfragte, schlug dieser gleich Giraud als Illustrator vor. So kam es, dass "Gir", wie sich der Franzose nannte, mit seiner ersten Blueberry-Episode Fort Navajo im französischen Magazin Pilote debütierte.
Die_Augen_der_KatzeIm Laufe der Jahre entwickelte sich die Serie von einem klassischen Abenteuercomic zu einem Hard Boiled-Western – Sergio Leone und Sam Peckinpah und die Liberalisierung durch die 1968er Kulturbewegung hinterließen ihre Spuren. Zeichnerisch orientierte sich Gir anfangs noch stark an Jijé, sodass es nicht auffiel, als Jijé in der Erzählung Das Halbblut aushalf und etwa ein Drittel der Seiten zeichnete. Erst im Laufe der Zeit entwickelt er eine Vorliebe für detailreiche Hintergründe und perfektionierte das Western-Genre durch eine dynamische Erzählweise. 1976 entstand in Kooperation mit Charlier für Pilote ein weiterer Western: Jim Cutlass. Das abgeschlossene Werk wurde 1987 von Christian Rossi für das belgische Magazin À Suivre wiederbelebt und ab 1990 von Gir inszeniert. Nach Charliers Tod im Jahr 1989 übernahm Gir auch das Skript bei Blueberry und ab 1991 bei Marshal Blueberry. Dieser Spin-Off wurde von William Vance und später von Michel Rouge illustriert und thematisiert einen in die Jahre gekommenen Helden.
Giraud "emanzipierte" sich parallel zu seinen Gir-Arbeiten in den ausgehenden 1960er Jahren vom Westerngenre. Seine Schwäche für Sciencefiction kam zunächst in entsprechenden Illustrationen und Buchcovergestaltungen und einer Pilote-Kolumne über das Thema zum Ausdruck, der sich auch Phillippe Druillet und Jean-Pierre Dionnet anschlossen. Sein Pseudonym "Moebius", das er fortan für phantastische und experimentelle Arbeiten verwendete, benutzte er erstmals 1963 in einer Reihe von Kurzgeschichten für die Satire-Zeitschrift Hara-Kiri. Die erste waschechte Moebius-Geschichte sollte allerdings erst zehn Jahre später folgen. Nachdem er 1965 eine weitere Mexiko-Reise gemacht hatte, heiratete Giraud 1967 Claudine Conin, 1969 wurde eine Tochter und 1972 ein Sohn geboren. 1973 folgte die Kurzgeschichte La Déviation (dt. Die Umleitung). Zwar wurde sie in Pilote noch mit Gir gekennzeichnet, aber die absurd-phantastische Groteske, in der er eine aufwändige Schraffur-Technik verwendet, erscheint im typischen Moebius-Stil.
Diese Neuorientierung wollte nicht mehr so recht zum kommerziell ausgerichteten Pilote passen. Nachdem drei ehemalige Pilote-Cartoonisten 1972 mit L’Écho des Savanes ein erwachseneres Publikationsmedium gründeten, konnte Giraud dort Cauchemar Blanc (dt. Alptraum in Weiß) als Moebius veröffentlichen.
Weitere Publikationen unter dem Pseudonym folgten beim Verlag Éditions du Fromage mit Le Bandard Fou (dt. Der irre Ständer) und sodann auch wieder in Pilote mit L’Homme est-il bon? (dt. Ist der Mensch schlecht?). Dem Beispiel von L’Écho des Savanes folgend, schloss sich Giraud 1975 mit seinen Brüdern im Geiste, Druillet und Dionnet, zusammen. Gemeinsam hoben sie mit dem fiktiven "Bernard Farkas" das SF-Magazin Métal Hurlant aus der Taufe, das sich inhaltlich an ein erwachsenes Publikum richtete. Dafür gründeten sie ihren Verlag Les Humanoïdes Associés. Für Métal Hurlant entstanden revolutionäre Meisterwerke wie der phantastische Stummcomic Arzach und die von Drogenkonsum und Michael Moorcock inspirierte SF-Groteske Le Garage Hérmetique (dt. Die hermetische Garage). Seine intuitiv erzählten Geschichten, die nach dem "dessin automatique"-Verfahren entstanden, wurden assoziativ, satirisch, komplex und sprunghaft. Technisch wechselt Moebius vom Pinsel zur Feder, die handwerklich die inhaltliche Spontanität in das Graphische überträgt. Moebius zählt darüber hinaus zu den ersten Comickünstlern, die eine Direktkolorierung verwendeten. Die flächig aufgetragenen Farben sind oft antinaturalistisch und grell. Auch die Sprechblasen und das Lettering wurden im Gegensatz zu den Blueberry-Arbeiten nach Design-Kriterien gestaltet.

Zeichnung_Giraud

Zu derselben Zeit wurde der Comickünstler neben Chris Foss und H. R. Giger eingeladen, das Design für eine Filmadaption von Frank Herberts SF-Klassiker Dune zu entwerfen. Zwar wurde aus dem Projekt in dieser Form doch nichts, aber es brachte den phasenweisen Vegetarier mit neuen Künstlern zusammen. Ridley Scott engagierte das gleiche Trio für seinen Film Alien (1979), der zufällig auf einer Geschichte von Dan O’Bannon basierte. O’Bannon hatte zuvor für Métal Hurlant die SF-Noir-Story The Long Tomorrow geschrieben, die Moebius illustrierte und Scott wiederum atmosphärisch bei seiner Philip K. Dick-Filmadaption Blade Runner (1982) einfließen ließ. Moebius entwarf Storyboards, kreierte das Design oder schrieb Drehbücher bei phantastischen Filmen wie Disneys Tron (1982), Gary Goddards Masters of the Universe und James Camerons The Abyss (dt. Abyss – Abgrund des Todes; 1989). Neben diesen Hollywood-Produktionen arbeitete Moebius auch bei diversen internationalen Zeichentrickfilm-Projekten mit. René Laloux‘ Les Maîtres du Temps (dt. Herrscher der Zeit; 1982) wurde auf Grundlage von Moebius‘ Design konzipiert, und der Zeichner selbst schrieb am Drehbuch des Films mit. Bei Yutaka Fujiokas Nemo (1984) schrieb er neben Autoren wie Ray Bradbury das Drehbuch für das japanische Animationsstudio Tokio Movie Shinsha. Der animierte Film basiert auf Winsor McCays Comicstrip Little Nemo in Slumberland.
Das Dune-Projekt brachte Giraud außerdem mit dem chilenischen Regisseur Alejandro Jodorowsky zusammen. Gemeinsam mit dem Autor entstanden Arbeiten wie Les Yeux du Chat (dt. Die Augen der Katze) von 1978 und die satirische SF-Serie John Difool, die zwischen 1981 und 1988 bei Les Humanoïdes Associés erschien und eine vielschichtige psychedelische Münchhausen-Space Opera darstellt.
In den frühen 1980er Jahren zog Giraud nach einem Aufenthalt in Japan weiter nach Los Angeles. In Kalifornien konnte er in Hollywood arbeiten und Métal Hurlant direkt in den USA vermarkten. Viele Arbeiten Girauds wurden in diesem Zeitraum beim Marvel-Imprint Epic publiziert. Er selbst wurde zum Mitbegründer des Labels Aedena. Dort wurde das Portfolio La Cité-Feu von Geoff Darrow, das Moebius tuschte und kolorierte, und La Nuit de l’Étoile mit Marc Bati veröffentlicht. Gemeinsam mit Bati entstand auch das an Kinder gerichtete Fantasy-Märchen Cristal Majeur (später: Altor) für Dargaud. Außerdem realisierte er in den Amerika-Jahren mit Stan Lee für Marvel den Superheldencomic Silver Surfer: Parabel. Moebius begann darüber hinaus 1985 mit seinem sechsbändigen Zyklus Le Monde d’Edena (dt. Die Sternenwanderer), die 2001 abgeschlossen wurde. Die Serie hat ihren Ursprung in Sur l’Étoile, einem Werbecomic für Citroën von 1983, und ist von einer Rousseauschen "Zurück zur Natur"-Philosophie durchdrungen. Giraud war selbst zeitweise Vegetarier und ließ in Le Monde d’Edena seine Begegnung mit Guy-Claude Burger und dessen Instinktotherapie, die auf einer Rohkosternährung beruht, einfließen. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau, die bis zum Tod seine Managerin blieb, und der Heirat mit Isabelle Champeralle 1988, kehrte Giraud 1989 wieder nach Frankreich zurück.

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Special vom: 23.06.2012
Autor dieses Specials: Marco Behringer
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Editorial von Georg F.W. Tempel
Ein Interview mit Gerhard Förster
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