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Optische Orgasmen: Taschen inszeniert die »Geschichte von DC Comics« als Nonplusultra
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Optische Orgasmen:

Taschen inszeniert die »Geschichte von DC Comics« als Nonplusultra

Eine Art Erlebnisbericht, voller beabsichtigter Hyperbeln

Ein Buch ist etwas Feines. Wenn wir hier über Bücher sinnieren, so ist nicht von einem schnöden Taschenbuch die Rede, das mal eben in der Straßenbahn oder am Strand verschlungen wird, sondern von einem reichlich illustrierten, bibliophil aufgemachten Festeinband vom Typ eines prächtigen Folianten, für den man sich die, wie unsere US-amerikanischen Freunde sagen würden, berühmt-berüchtigte »quality time« nimmt.

Schon alleine das Blättern in einem schön editierten Bildband ist für so manchen Bücherfreund eine Art optisches Lustgefühl. Wie man weiß, sind Leser und Sammler von Erzeugnissen der »Neunten Kunst« ohnehin visuell versiert. Und bei einem Sekundärwerk über das Medium Comic bietet sich layouttechnische Austoberei zwar an, doch es bleibt meist bei einer mehr oder weniger biederen Bebilderung im Rahmen des »Alles schon mal gesehen«.

Nicht so der Kölner Taschen Verlag, wo selten bloß schnöde gekleckert und oft stilvoll geklotzt wird. Dort beherrscht man die Kunst mit der Kunst maßlos zu sein. Prachtvolle »Coffee Table Books« werden von dem renommierten Verlagshaus weltweit mit beeindruckender Routine auf den Markt gebracht. Taschen brachte es fertig, das teuerste Buch aller Zeiten zu publizieren. Die Sonderedition des Muhammad Ali-Buchs The Greatest of All Time kam für schlappe 10.000 Euro auf den Markt. Die Volksausgabe des 652seitigen Werkes ist für lächerliche 99,99 Euro zu haben.

Zeitgleich schickte der Verlag auch sein Buch über das Jubiläum von DC Comics in die Regale der Buchhandlungen: 75 Years of DC Comics von Paul Levitz. Damit hätten wir an der Ladentheke eine reizvolle Anspielung auf den größten Box-Kampf der Comic-Geschichte: Superman gegen Mohammad Ali. In seinem Vorwort zur Herbst/Winter 2010-Ausgabe des Taschen Magazins erinnert Verlagsgründer Benedikt Taschen an die spektakuläre Story von Dennis O’Neil (Text) und Neal Adams (Zeichnungen), mit der DC Comics anno 1978 die beiden Schwergewichte in den Ring steigen ließ. Wer wird den Kampf diesmal gewinnen, sprich, welcher Titel wird sich besser verkaufen?

Für Comicleser, die sich mit dem US-Comics beschäftigen, und das sind in Deutschland nicht wenige, stellt sich die Problematik nicht. Ein Buch über die Geschichte von DC Comics ist für den interessierten Fan durchaus Pflichtlektüre (eine ausführliche Besprechung findet sich hier). Und als im Spätsommer der Taschen Verlag mit den ersten Pressemitteilungen auf das besondere Buch aufmerksam machte, waren viele hocherfreut. Jedoch wurde die Vorfreude des gemeinen Comicfans etwas getrübt, sobald er den stolzen und ultrasaftigen Verkaufspreis von 150 Euro realisierte. Einhundertfünfzig Mäuse, hey, das sind rund 300 Mark! Da gerät man unwillkürlich in einen Gewissenskonflikt, sofern man nicht täglich in Geld badet oder zumindest goldene Wasserhähne zu Hause hat. Ebenso drängte sich die Frage auf: Wird das Buch sein Geld wert sein?

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Abbildung oben:
Doppelseite 234/235
© 2010 DC Comics. All Rights Reserved. Courtesy of TASCHEN. 

Ein großartiges Produkt wird bei Taschen natürlich entsprechend inszeniert. Im Herbst klingelte überraschend FedEx  und lieferte einen ungewöhnlich großen Tyvek-Umschlag ab. Darin befand sich die Pressemappe für das Jubiläumsbuch mit einer Reproduktion des Umschlags in Originalgröße. Nicht dumm die Aktion, denn spätestens dann wurde auch dem letzten Zweifler bewusst, was die Dimensionen 29 x 39,5 cm wirklich bedeuten. Sowas schindet Eindruck.

Anfang Oktober präsentierte der Verlag an seinem Stand auf der Frankfurter Buchmesse die ersten Ansichtsmuster. Das zeigte Wirkung, denn wenn ein Fan von DC Comics diese Exemplare auch nur einmal aufschlug, wurde er in einen nachhaltigen Bann geschlagen. Man war quasi einem speziellen Biblio-Magnetismus ausgesetzt und musste fortwährend blättern und staunen. Sich losreißen war nur unter leichten Schmerzen und mit einem Gefühl von zarter Traurigkeit möglich.

Ende Oktober war es schließlich soweit: Das Levitz‘sche Magnum Opus 75 Years of DC Comics wurde an den Handel ausgeliefert. Aber Achtung! Anders wie bei normalen Buchkäufen, muss man hier spezielle Vorkehrungen treffen. Wie transportiere ich einen megagroßen Wälzer wie diesen nach Hause? Er passt in keine Plastiktüte und selbst wenn es ginge, dürfte man nach der Schlepperei Rückenprobleme  bekommen. Am besten also mit Sackkarre einkaufen gehen oder gleich mit dem Auto rückwärts in den Laden fahren und den gigantischen Buchklotz zu zweit, mit Hilfe des freundlichen Verkäufers, in den Kofferraum hieven.

Ganz Gewiefte lassen sich das Buch liefern. Hier kann es zwar sein, dass man dem Paketzusteller Schmerzensgeld in Form eines signifikanten Trinkgelds zahlen muss, aber man spart sich die logistische Übung und kann die frei gewordenen Ressourcen aufs Auspacken verwenden. Denn auszupacken gibt es einiges.

Man muss sich das einmal figurativ vorstellen: Das Buch wird in einem schmucken Koffer aus gedrucktem Karton mit einem weißen Plastikgriff geliefert. Alles zusammen wiegt imposante sieben Kilogramm. Der Buchrücken alleine ist zirka 7,5 cm breit. Der Koffer ist mit hartem Cellophan verschweißt. Das behutsame Entfernen der Plastikhülle nimmt einige Minuten in Anspruch. Weitere Minuten dauert das Öffnen der Laschen, die direkt nach der Herstellung noch schwergängig sind. Hier gilt: »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«. Man will schließlich die Hülle des Buches nicht einreißen, auch wenn sie noch so stabil erscheint. Hat man den Kartonbehälter einmal geöffnet und das Buch ins Freie befördert, gilt es das nächste Hindernis zu bewältigen: Das Buch selbst ist ebenfalls verschweißt.

Schließlich ist es soweit. Das Buch kann geöffnet werden. Ist man empfänglich für opulente Bebilderung, sind die Eindrücke, die auf einen einprasseln fast schon elektrisierend. Die Einleitungen zu Hauptkapiteln wie »Golden Age«, »Silver Age« oder »Bronze Age« sind auf schwerem metallisch glänzenden, folienartigen Karton gedruckt. Jede geschichtliche Phase ist mit einer doppelten, ausklappbaren Zeitleiste dargestellt, die ihrerseits sorgfältig zusammengestellte Details präsentiert. Diese könnten akribischer nicht sein. Schon gewußt?1954 war Fawcetts Hopalong Cassidy der erste Titel, den DC von einem anderen Verlag aufgekauft hatte (ab Heft Nr. 86). Oder dies: 1964 versuchte man den Männer-Haushalt von Batman, Robin und Butler Alfred etwas aufzumischen. In Detective Comics #328 wurde der treue Butler ermordet und ersetzt durch Dick Graysons Tante Harriet. Oder das: 1993 wird Bill Clinton Präsident der USA. Sein erster offizieller Staatsakt in einem DC Comicheft ist ein ergreifender Nachruf am Grab des just im Kampf gegen Doomsday gestorbenen Superman (in Superman: The Man of Steel Nr. 20).Wow!

Doch zurück zur imposanten Erscheinung des Buch. Der Schutzumschlag ist so groß, das man einen Sombrero daraus basteln kann. Und dann ist da noch der seinerseits gigantische Stofffaden des Lesezeichens, der sich auch als Kordel bei kleinen Gardinen gut machen würde. Kurzum: Das Buch ist so einwandfrei sehr gut und imposant gemacht, mit extrem viel Liebe zum Detail, man muss wirklich aufpassen, dass einem vor schierer Begeisterung nicht die Freudentränen die Sicht verdecken.

Doch das Auspacken ist nicht die einzige Herausforderung, die dieses Buch an den Besitzer stellt. Macht man sich Gedanken über die anschließende Lektüre des Titels, so beantworten sich Fragen nach dem „Wie“ und „Wo“ nicht automatisch von selbst. Im gewohnten Lesesessel, oder auf dem Rücken auf der bequemen Couch liegend, wird man sehr schnell spüren, welch schwere Last auf den Körper drückt. Nicht unbedeutend ist auch die Frage nach der Aufbewahrung. Will man kein Schwerlastregal aufstellen, das nicht mindestens 35 Zentimeter tief ist, bleibt in jedem Fall nur das unterste Fach. Ansonsten kann es sein, dass der voluminöse Wälzer das Regal zum Einstürzen bringt.

75 Years of DC Comics ist ein Erlebnis der besonderen Art, nicht nur beim Lesen und Staunen, sondern auch bei der Handhabung. Bleibt die entscheidende Frage, ob das Werk sein Geld wert ist? Und diese ist mit einem uneingeschränkten "Ja" zu beantworten. Drückt man trotz der Abstinenz kritischer Passagen ein Auge zu, so ist das Buch bereits inhaltlich ein wahres Meisterstück und hat durch die Aufmachung des Taschen Verlags zusätzlich an Wert und Klasse gewonnen. Das ist wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Ein riesiges Fest, bei dem man sich nicht nur gut amüsiert, sondern auch Raum und Zeit vergisst. Taschen hat die Messlatte für die Inszenierung von Comic-Sekundärliteratur als Gesamtkunstwerk in einen astronomisch hohen Qualitätsbereich katapultiert. Besser geht’s nimmer.


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Abbildung oben:
Doppelseite 442/443: Bronze-metallig glänzende Eröffnungseiten des Kapitels "The Bronze Age"
© 2010 DC Comics. All Rights Reserved. Courtesy of TASCHEN.








Special vom: 05.12.2010
Autor dieses Specials: Matthias Hofmann
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Paul Levitz: Es gibt Figuren, und es gibt Charaktere.
Paul Levitz: Das Goldene Zeitalter (1938-1956), Auszug
Ausführliche Rezension und weitere Leseproben
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