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Drei Gründe für den Niedergang
Drei Gründe für den Niedergang
Stan Lee sieht drei Gründe für den Niedergang des Superheldentums. Erstens: Die Superheldencomics seien seit den späten Siebzigerjahren in den USA immer ausgeprägter weg vom Kiosk an Spezialgeschäfte und Comicbuchläden vertrieben worden. Dadurch habe man einen Trend zur Nischenpolitik und Spezialisierung der Serien befördert, deren Ergebnis wir heute zu sehen bekämen: «Eine Art Gottesdienst, bei dem sich die Fans an ihren Universen freuen, aber der Rest der Welt begreift nichts mehr .»

Zweitens hätte sich eine Akzentverschiebung innerhalb der grossen Verlage ergeben. «Früher waren es die Redaktoren, die den Gang der Geschichten bestimmten, heute sagen die Zeichner, wo es langgeht.» Das Resultat sei ein seelenloser, durch reines Tempo bestimmter Overkill, der sich bereits wieder totgelaufen habe. Drittens: Man habe sich vom Sammlermarkt verführen lassen. «Mitte der Achtzigerjahre überboten sich die Verlage darin, den Markt mit speziellen Sammlereditionen zu überschwemmen. Die gleichen Hefte wurden mit mehreren Covers geliefert, so dass der Sammler gezwungen war, alle Ausgaben zu kaufen.» Diese künstlich hoch gehaltene Nachfrage sei nun weggebrochen.

Gibt es Hoffnung? Nach einem längeren Exkurs über Frank Miller, Peter Parker, den grünen Kobold und eine Figur namens Hammerkopf kommen wir zum Schluss noch auf den neuen «X-MEN»-Film von Bryan Singer zu sprechen. Lee spielt einen kleinen Part als Hotdog-Verkäufer, ausserdem begleitete er die Produktion im Ehrenamt eines Executive Producer. Manche USMedien feierten Singers Thriller als Meisterwerk, der «New Yorker» nannte «X-MEN» die beste Comicverfilmung überhaupt. Der Film ist für meinen Geschmack tatsächlich hervorragend gemacht, humorvoll, mit einer glänzenden Besetzung. Vor allem aber nimmt Singer sein Thema ernst und hat durch seinen Erfolg bereits diverse andere Superheldenverfilmungen indirekt lanciert. «Spider-Man» ist in der Pipeline und soll von Sam Raimi inszeniert werden. «Hulk» und die «Fantastischen Vier» sind in Vorbereitung. Lee erhofft sich von den Filmen eine tief greifende Beflügelung der Heftchenkultur, eine Renaissance von epischen Ausmassen, bei der auch seine neue Internetfirma kräftig absahnen soll. Der Börsengang von Stan-Lee-Media brachte ihm kürzlich bereits die ersten 35 Millionen Dollar ein «Mehr als ich bei Marvel in fünfzig Jahren je verdient habe», und es könnte mehr werden.

Mag sein, dass sich die Hefte noch einmal erholen können. Ich vermute eher, dass Singers «X-MEN» den Untergang der Superheldencomics definitiv besiegeln, indem sie sie vollständig in die Esoterik abdrängen werden. Bezeichnenderweise hat sich der Film überhaupt nicht von der hyperventilierenden Testosteron-Kultur des aktuellen Comicschaffens infizieren lassen. Er schliesst im Gegenteil dort an, wo Lee und Kirby das Genre neu erfunden haben. «X-MEN» bringt die klassischen Themen der silbernen Marvel-Ära auf die Leinwand: das Leiden des Superhelden an sich selbst, die Trivialvariante jener Entfremdungspsychologie, die Lee, ich gebe es ja zu, vermutlich weniger ernst genommen hat als viele seiner treusten Leser. Der alte Fuchs will sich von meinen düsteren Ausblicken freilich nicht ankränkeln lassen: «Ach wissen Sie, seit ich in diesem Metier arbeite, sind mir immer wieder Journalisten gekommen mit ihren Apokalypsen. Die Journalisten sind gegangen, aber die Superheldencomics sind geblieben. Verstehen Sie, was ich meine?»

Beim Abschied drücke ich Stan Lee die Hand und lasse mich zum ersten Mal in meiner journalistischen Karriere dazu herab, ein Autogramm zu verlangen. Als ich den Hochsicherheitsbürotrakt verlasse, kommt mir die Merry Marvel Marching Society in den Sinn, die von Stan Lee im Januar 1965 als Fan-Club gegründet wurde, um die versprengte Marvel-Leserschaft zur homogenen Zielgruppe zu verschweissen. Vermutlich war ihr Leitspruch niemals gültiger als heute: «Wir wissen zwar nicht, wohin wir gehen, aber wir sind immer fröhlich unterwegs.»

Quellennachweis:
Das Magazin Nr. 35, 8. September 2000; TA-Media AG, 8021 Zürich Autor Roger Köppel, Jahrgang 1965, lebt in Zürich, und ist Chefredaktor der Zeitschrift "Das Magazin" (roger.koeppel@dasmagazin.ch) .
Fotographin Vera Hartmann lebt und arbeitet in Los Angeles (verahartmann@hotmail.com).

Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von Autor Roger Köppel zur Verfügung gestellt.


Special vom: 04.03.2001
Autor dieses Specials: Roger Köppel (Text) und Vera Hartmann (Fotos)
Die weiteren Unterseiten dieses Specials:
Kannibalistische Rituale
Und dann kam Spider-Man
Einsamkeit und Depressionen
Empathische Rüsselmenschen
Stan - The Man - Lee
Batman durch den Schredder
Im Büro bei Stan Lee
Ich habe es einfach ausgespuckt
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