Das letzte Dschungelbuch - Gratis Comic Tag 2015

Das letzte Dschungelbuch - Gratis Comic Tag 2015

Das letzte Dschungelbuch - Gratis Comic Tag 2015

Story:
Ein alter Mann, längst Vater und Großvater, kehrt in das zurück, was vom Dschungel Indiens übriggeblieben ist. Damals, vor langer Zeit, war er in der Wildnis aufgewachsen, als Teil eines Wolfsrudels unter dem Namen "Kleiner Frosch" - Mowgli. Nun möchte er sein Leben am Ort seiner Jugend beschließen. Mowgli erinnert sich an die Ereignisse von damals, aber er muss auch den Dschungel als Erwachsener wiederentdecken.

Meinung:

Oh, hear the call! - Good hunting all
That keep the Jungle Law!

Es gibt wohl kaum jemanden, der die Geschicht von Mowgli nicht kennt. Die Geschichte des Menschenjungen, der als Wolf unter Wölfen im indischen Dschungel aufwächst. Die Geschichte seiner Freunde Baloo und Bagheera, die Geschichte seines großen Feindes, des hinkenden Tigers Shere Khan. Wer sie alle nicht in der Originalfassung von Rudyard Kipling kennengelernt hat, ist ihnen in einer der vielfältigen Adaptionen begegnet, von denen nur der seinerseits weltbekannte Trickfilm aus dem Hause Disney genannt sei. "Das letzte Dschungelbuch" erzählt nicht nur die vertraute Geschichte, sondern fügt ihnen weitere Kapitel hinzu.

Der erste Band von insgesamt vieren, der in diesem Gratis-Heft enthalten ist, umfasst ziemlich genau "Mowgli's Brothers", die ersten Erzählung aus dem Original. Die Künstler haben sich so eng an die Vorlage gehalten, dass man oft sogar die von Kipling bekannten Dialoge wiederfindet. Die Geschichte um Mowgli als alten Mann ist hier noch wenig mehr als ein Rahmen, der nicht viel zur Handlung beiträgt.

Das Szenario stammt aus der Feder von Stephen Desberg. Der Belgier ist seit 1976 in der Comicbranche unterwegs, und zu seinen Werken gehören so unterschiedliche Titel wie "IR$" (mit Bernard Vrancken), "Billy the Cat" (mit Stéphane Colman), "Der Stern der Wüste" und "Der Skorpion" (beide mit Enrico Marini) und jetzt eben "Das letzte Dschungelbuch". Diesmal hat sich Desberg mit Henri Reculé (Storyboards und Skizzen) und Johan De Moor (Tusche und Kolorierung) zusammengetan. Reculé und Desberg haben zusammen schon "Die Unsterblichen" auf's Papier gebracht. Andere Werke des Zeichners sind beispielsweise "Cassio" oder "Die Legende von Kynan". Johan De Moor, Sohn des brühmten Zeichners Bob De Moor, arbeitete bereits in den 1980ern an Hergés "Stups und Steppke" mit. De Moor und Desberg schufen Anfang der 1990er gemeinsam "Gaspard de la Nuit".

Bei den Zeichnungen in "Das letzte Dschungelbuch" geht Reculé eine Art Mittelweg zwischen dem Atmosphärischen, oft Bedrohlichen von Kiplings Erzählungen und der eher kindgerechten Disney-Interpretation mit einem tanzenden Bären. Seine Zeichnungen sind klar, teils regelrecht nüchtern. Aber er schafft es auch, die Bedrohlichkeit der Dschungeltiere angemessen in Szene zu setzen.

Was das Artwork nicht schafft, ist die Magie der "Dschungelbuch"-Geschichten auszustrahlen. Würde man "Mowglis Brüder" nur aus dieser Adaption kenne, könnte man sich fragen, warum die Geschichten auch nach über einhundert Jahren noch gerne gelesen werden.

Die Texte können dieses Manko leider nicht ausgleichen. Auch sie sind beileibe nicht schlecht, aber es fehlt der besondere Zauber. Hin und wieder spürt man den Texter (oder den Übersetzer) hinter den Worten. Es fällt schwer, sich in die berühmte "suspension of disbelief" zu begeben, sich in die Geschichte zu vertiefen und sie für den Moment des Lesens für wahr zu halten. Und von Kiplingesker Erzählkunst ist nur wenig zu merken.

Allerdings muss man dazu sagen, dass Rudyard Kipling auf dem Gebiet enorme Fußstapfen hinterlassen hat. An dem Anspruch, die zu füllen, sind schon ganz andere gescheitert. "Das letzte Dschungelbuch" ist kein schlechter Comic, er kann "nur" die großen Erwartungen nicht erfüllen, die der Name Kipling weckt. Die Idee, Mowgli als alten Mann zu zeigen, ist kreativ und macht neugierig auf die Abenteuer, die er in diesem Abschnitt seines Lebens zu bestehen haben wird.

Am Rande bemerkt sei, dass Baloo erfreulicherweise richtig als Lippenbär gezeigt wird. In Adaptionen für ein westliches Publikum wird Mowglis Lehrer oft zu einer hier bekannteren Art, beispielsweise einem Braunbären, uminterpretiert.



Fazit:
Mowgli als alter Mann, der in den Dschungel zurückkehrt: Eine interessante Idee, die aber mehr für die folgenden Bände verspricht als im vorliegenden Heft bereits einlöst. Dieses orientiert sich eng an Kiplings Originalerzählung. Text und Artwork sind solide, ohne die erzählerische Magie des Originals einfangen zu können. An diesen hohen Ansprüchen sind aber schon andere gescheitert. Ein Comic, der einen näheren Blick lohnt, wenn man nicht die Erwartungen durch das Vorbild zu hoch schraubt.